Ist China nun ein "kapitalistisches Land"?
Die Diskussionen unter Linken werden nie ganz aufhören - hoffentlich nicht. Dieses hoffentlich schiebe in hinten ran, denn solange noch Merkmale bestehen, die als Fundament einer sozialistischen Entwicklung geeignet sind, muss man nicht mit einem totalen Nein antworten. Geht man aber davon aus, dass es eigentlich einen "Dritten Weg" nicht gibt, dann steuert China wohl ich eine Gesamtposition, in der eine postkapitalistische Gesellschaft nur per "Revolution" erreichbar ist.
Wenn wir aber über so komplizierte Fragen Debattieren, ist es zumindest erforderlich, die jeweils aktuellsten Entwicklungen zu betrachten, um nicht permanent Vorurteile zu reanimieren. Dazu dient der jW-Artikel von Helmut Peters, der am 29.3.2010 erschienen ist: Der darin beschriebene Trend erscheint mir zumindest mehr als bedenklich...
Dialektik von Krisenbewältigung und gesellschaftlichem Fortschritt in der Volksrepublik China
Von Helmut PetersDiese Trendwende wurde ausgelöst durch die wachsenden qualitativen Anforderungen an die Regierung des Landes und die ernste innere und äußere Lage. Sie drückte sich während der beiden Tagungen darin aus, daß das Volk in einer bis dahin nicht gekannten Breite die Möglichkeit erhielt, sich kritisch zur Lage im Lande zu äußern und Veränderungen einzufordern.
Im Zuge dieser Veränderung begannen sich neuartige, vielschichtige und widerspruchsvolle Wechselbeziehungen zwischen Partei und Volk, zwischen Krisenbewältigung und gesellschaftlichem Fortschritt zu entwickeln. Die Herausbildung einer aktiven Partizipation des Volkes an der politischen Macht scheint in diesem Prozeß möglich. Entscheidendes wird allerdings von den Kräften im lokalen Machtapparat abhängen, deren Interessen bisher mit der »Revolutionspartei« verknüpft sind.
Eine zweite Grunderkenntnis aus den Tagungen der beiden Kongresse: In der gesellschaftlichen Strategie der KP Chinas dominiert die nationale gegenüber der sozialen Frage. Der Patriotismus als »Liebe zum Land« gilt als »der größte politische Konsens« für alle Chinesen. Diese Orientierung, die sich erstmals im Arbeitsbericht der PKKCV findet, beruht auf einem gesetzlich fixierten, relativen und längerfristigen Ausgleich zwischen den sozialen Interessen der verschiedenen Klassen, sozialen Schichten und Gruppen.
Die KP China geht davon aus, daß dieser Konsens »vom Festland, von Hongkong, Macao, Taiwan und den Chinesen in Übersee« akzeptiert werden kann und wird. »Das Land lieben heißt korrekt, China lieben. Dieses Ethos muß von jedem Chinesen befolgt werden.« Politisch äußere sich dieser Konsens in vielen Verbindungen und in einem entwickelten Austausch, ökonomisch im gegenseitigen Vorteil und des beiderseitigen Gewinns und kulturell in der Akzeptanz der »Wurzel«, der chinesischen Nation. Die Umsetzung dieser politischen Orientierung drückte sich während der Tagungen in einer betont demonstrierten Gleichbehandlung der PKKCV mit dem NVK durch die gesamte Führungsspitze der Partei, dem Ständigen Ausschuß des Politbüros der ZK aus.
Trotz der Wachstumsrate des BIP von 8,7 Prozent im Vorjahr ist die gesamte Situation der chinesischen Volkswirtschaft nach wie vor kritisch zu sehen, denn sie kann sich immer noch nicht auf ihren eigenen Grundlagen stabilisieren und entwickeln. Sie hängt weiterhin von größeren staatlichen Konjunkturspritzen ab. Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise ist dafür nicht das ursächliche Problem, obwohl sie fraglos die extrem exportlastige Wirtschaft des Landes schwer getroffen hat. Das Kernproblem ist vielmehr darin zu suchen, daß der Wandel in der ökonomischen Wachstumsweise des Landes nicht kraftvoll genug eingeleitet wurde, bevor die gesellschaftlichen Kosten der extensiven und umweltfeindlichen Wachstumsweise, die vor allem auf der billigen (im Preis billig gehaltenen) Arbeitskraft beruht, in die Höhe schossen und sich dieser Trend zunehmend destabilisierend auf die Gesellschaft auswirkte. Deshalb ist die Lösung dieses Problems mit seinen sozialen Begleiterscheinungen unter dem Gesichtspunkt, wie sich die chinesische Wirtschaft künftig auf dem Weltmarkt positionieren kann, von existenzieller Bedeutung für das Land.
Das erklärt, weshalb die Partei- und Staatsführung auch die beiden Tagungen nutzte, um nachdrücklich darauf zu drängen, den Wandel in der ökonomischen Entwicklungsweise und die Regulierung der Industriestruktur optimal zu beschleunigen. Sie geht davon aus, daß die letzte Phase der Krise durch tiefgehende globale Veränderungen in Wissenschaft und Technik gekennzeichnet und die chinesischen Unternehmen einem bislang nicht gekannten scharfen internationalen Konkurrenzkampf ausgesetzt sein werden. Darauf müssen sich vor allem die derzeit 128 zentral geleiteten großen staatlichen Unternehmen und Unternehmensgruppen einstellen.
Die Beschaffenheit der staatlichen Unternehmen umreißen chinesische Fachleute mit den Worten »große Quantität, niedrige Qualität«. Hiesige linke Medien folgen allzu gern Angaben über riesige Gewinne, die die chinesischen Staatsunternehmen erzielen. Es stimmt, Gewinne sind die Hauptkennziffer für die Bewertung der ökonomischen Ergebnisse in chinesischen Veröffentlichungen. Sehen wir uns das am Beispiel der 128 zentral geleiteten Unternehmen näher an. 80 Prozent der von ihnen gemachten Gewinne kommen aus nicht einmal zehn Monopolbranchen wie Erdöl, Petrolchemie und Fernmeldewesen. Die übergroße Masse der Gewinne ist also monopolgebunden und nicht unbedingt das Ergebnis effektiven Wirtschaftens. Betrachten wir den staatlichen Sektor insgesamt. Hier sind über 60 Prozent aller gesellschaftlichen Ressourcen konzentriert, mit denen nicht einmal 30 Prozent des BIP erwirtschaftet werden. Daraus läßt sich ablesen, daß die Arbeitsproduktivität in diesem gesellschaftlich entscheidenden Sektor allgemein niedrig ist.
Die Konsumtion der Bevölkerung verzeichnete 2009 mit 43 Prozent den geringsten Anteil am BIP seit Beginn der Reform- und Öffnungspolitik vor 30 Jahren, während die Investitionen in ihrer Höhe einen historischen Rekord vermelden konnten. Damit sich die Wirtschaft selbständig und weitaus weniger von der äußeren Nachfrage abhängig entwickeln kann, bedarf es jetzt einer deutlichen Steigerung des Anteils der Konsumtion der Bevölkerung. Auf diesem Hintergrund kommt es in diesem Jahr zu einer erneuten Verschuldung des Staates um gut 100 Milliarden Euro. Nur so kann auch die für die soziale Stabilität erforderliche Wachstumsrate von mindestens acht Prozent erreicht werden. Damit bewegt sich die Verschuldung des chinesischen Staates in Höhe von 2,8 Prozent des BIP im Unterschied zu Entwicklung in den USA und in der EU immer noch im Maße des Erträglichen.
Der Tenor in den Verlautbarungen des stellvertretenden Vorsitzenden und Parteisekretärs des Gewerkschaftsbundes, Zhang Minqi, war: »Wir sitzen alle im selben Boot, streben gemeinsam nach Wachstum und fördern erfolgreich die Entwicklung.« Seinen Ausführungen zufolge ist die Gewerkschaft darauf orientiert, gemeinsam mit den Unternehmern aller Eigentumsformen »harmonische Unternehmen« zu entwickeln und die Lohnfrage auf dem Wege von »kollektiven Konsultationen« zu regeln. Als prägnantes Beispiel führte Zhang eine »gemeinsam abgesprochene Kampagne« zur Minderung des Einflusses der internationalen Finanzkrise auf die Unternehmen mit den Schwerpunkten »Sicherung des Arbeitsplatzes und des Lohnes«, »Stabilisierung des Personalbestandes« und »Erhöhung der Effektivität« an.
Im Ergebnis dieser Kampagne wäre es bis Ende 2009 gelungen, mit den Unternehmern bzw. Managern von über 630000 Unternehmen mit über 80 Millionen Beschäftigten eine Grundsatzvereinbarung zu treffen. Sie legt fest, »niemand oder nur wenige« zu entlassen, den Lohn »nicht oder nur geringfügig« zu kürzen und neue Löhne (Näheres dazu wird nicht mitgeteilt – H. P.) zu vereinbaren. Gegen die »Verletzung der demokratischen Interessen« der Arbeiter »in einigen Unternehmen« hätte die Leitung des Gewerkschaftsbundes ein Dokument herausgegeben. Tatsächlich sind vor Gerichten massenhaft Arbeitskonflikte anhängig, weil die Kapitalseite ihre in der Arbeitsgesetzgebung festgelegten Pflichten gegenüber ihren Beschäftigten verletzt haben. 2008/2009 sind allein in Kanton 26256 Konflikte zwischen Arbeit und Kapital gerichtlich entschieden worden. Diese Auseinandersetzungen, wurde auf der Tagung des NVK berichtet, sind z.B. in Kanton der Hauptfaktor, der die gesellschaftliche Stabilität beeinträchtigt.
In China ist es inzwischen üblich, daß die Leser direkt aufgefordert werden, ihre Meinung zu veröffentlichten Beiträgen mitzuteilen. Das erfolgt zumeist im Internet. Zur Vorstellung Zhang Minqis meldeten sich Dutzende von »Netzfreunden« zu Wort. Die zu Wort kamen, hatten alle ein Thema: die Rolle der Betriebsgewerkschaft bzw. ihres Vorsitzenden für die Wahrnehmung der Rechte der Arbeiter. Die Aussagen gleichen einander: Der Vorsitzende der Betriebsgewerkschaft hat keine Macht, die Interessen der Arbeiter wahrzunehmen, bzw. er ordnet sich der Unternehmensführung als betrieblich auf mittlerer und höherer Ebene Angestellter bedingungslos unter.
Ein von der nationalen Frage geprägter »politischer Konsens« hat überhaupt nur eine Chance, wenn sich die Kapitalseite im Rahmen der gültigen Arbeitsgesetzgebung bewegt. Wenn Entwicklungen wie in Kanton ihren Lauf nehmen, dann ist es um diesen Konsens schlecht bestellt. Selbst wenn es gelingen würde, die Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital relativ konfliktfrei zu halten, dürfte sich die soziale Frage auf Dauer kaum der nationalen Frage unterordnen lassen.
Berichten zufolge unterbreiteten die Abgeordneten des NVK im Verlaufe der zehntägigen Beratungen 518 Vorschläge für die Tätigkeit des NVK und der Regierung. In diesem Zusammenhang wurde die Orientierung für die Arbeit der Regierung in ihrem Bericht für das kommende Jahr gleich 15mal verändert, darunter auch in einer Reihe wesentlicher Fragen. Aus der Zahl der Vorschläge der Abgeordneten sollen zwei herausgegriffen werden. Der Abgeordnete Ma Xintian kritisierte, daß die Auszahlung der Löhne für Bauernarbeiter (Wanderarbeiter) nach wie vor hinausgezögert wird. Er schlug deshalb vor, diese Handlung künftig als eine Straftat einzustufen und gerichtlich zu verfolgen. Der Abgeordnete Zhang Lidian aus Guangdong wies darauf hin, daß die Kriminalitätsrate Jugendlicher im Lande 18 Prozent aller Straftaten ausmacht und die Rückfallquote in Kanton bei 30 Prozent liegt. Er hält es deshalb für dringlich, mit der Rechtserziehung bereits in der Grundschule zu beginnen.
Das Plenum des NVK nahm eine weitere Demokratisierung des Wahlgesetzes der VR China vor. Die KP Chinas spricht bekanntlich von »fünf Rechten« des Volkes: das Wahlrecht und die Rechte auf Information, Teilnahme, Meinungsäußerung und Kontrolle. Das Wahlrecht selbst wird als eine Art »Mutterrecht« angesehen. Das veränderte Wahlgesetz ist ein Schritt zur Durchsetzung dieser »fünf Rechte«. Für die gegenwärtige Entwicklungsphase des Landes enthält es gewichtige Neuerungen. Allen voran steht die Festlegung, daß fortan für die Wahl der Abgeordneten in Land und Stadt die gleiche Stimmenzahl gilt. 1953 war das Verhältnis auf 8:1 festgelegt worden, ab 1996 galt das Verhältnis von 4:1.
Von den Wahlkommissionen sind künftig generell Wahlversammlungen zu organisieren, auf denen die Kandidaten den Wählern Rede und Antwort zu stehen haben. Bisherige Erfahrungen führten jetzt zur der Bestimmung, daß Verwandte von Kandidaten nicht mehr zur Kontrolle und Auszählung der Stimmen herangezogen werden dürfen.
Vor allem seit Beginn der 90er Jahre war der Anteil der Arbeiter und Bauern unter den Abgeordneten zugunsten von Führungskadern, Managern von Unternehmen und Angehörigen der höheren Intelligenz geschrumpft. Deshalb kommt nun der Orientierung im veränderten Wahlgesetz, in größerer Zahl Vertreter aus den unteren Ebenen der Gesellschaft, vor allem Arbeiter, Bauern und Intellektuelle, als Abgeordnete zu wählen, besondere Bedeutung zu. Das Ziel dieser Festlegung wird darin gesehen, die demokratischen Grundlagen und Möglichkeiten für die breite Masse des Volks zu erweitern, am politischen Leben des Staates aktiv teilnehmen zu können. Es wäre von erheblicher politischer Bedeutung, wenn eine annähernd proportionale Vertretung dieser sozialen Kräfte unter den Abgeordneten der Volkskongresse erreicht werden könnte.
Offenbar gibt es Meinungen, das kulturelle Niveau von Vertretern der Basis würde nicht ausreichen, um ihre Aufgaben als Abgeordnete erfüllen zu können. Dagegen gehalten wurde, daß die Qualität eines Abgeordneten nicht allein von seinem Bildungsweg oder gar von seiner gesellschaftlichen Stellung abhänge. Es komme vor allem darauf an, daß er die gesellschaftliche Realität kenne, die Dinge beim Namen nenne – was heute in der Volksrepublik nach Ansicht von Abgeordneten des NVK durchaus nicht selbstverständlich ist – und die Interessen des Volkes vertrete. Als Beispiel wurde über die dreijährige Tätigkeit einer Abgeordneten des NVK aus einem Dorf berichtet, die anfangs der Ansicht gewesen war, sie hätte als Abgeordnete keine Macht, heute jedoch wirksam die Interessen der Bauernarbeiter im Parlament vertreten würde. Das Gesetz enthält die Klausel, daß die geheime Abstimmung der Wähler zu sichern ist. Es sind auch Bestimmungen aufgenommen worden, daß Vorstöße gegen das Wahlgesetz zu untersuchen sind und gegebenenfalls Abgeordneten das Mandat wieder aberkannt werden kann. Ein weiteres Merkmal sich entwickelnder Demokratie in der Volksrepublik ist die neue Festlegung, daß grundlegende Gesetze fortan nicht mehr vom Ständigen Ausschuß des NVK, sondern nur noch durch das Plenum der Abgeordneten des NVK verabschiedet werden dürfen.
Das veränderte Wahlgesetz wurde mit 2747 gegen 108 Stimmen bei 47 Stimmenthaltungen angenommen.
Das Plenum der NVK beschloß in Auswertung der Aussprache, folgende grundlegenden Aufgaben in den Mittelpunkt ihrer Arbeit zu stellen: 1. weitere Klärung des Problems, wie das Ziel eines »sozialistischen Gesetzessystems chinesischer Prägung« verwirklicht werden kann, 2. verstärkte Ausübung der Funktion des NVK, die Kontrolle über die Tätigkeit der Regierung zur Umsetzung der zentralen Aufgabenstellungen und 3. Intensivierung der Arbeit im Bereich der Dienstleistungen für die Abgeordneten, der außenpolitischen Arbeit des NVK und des weiteren Aufbaus des NVK.
Während ihrer zehntätigen Beratungen organisierte die Leitung der PKKCV drei große Beratungen. Eine erste Debatte galt der Problematik des wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Aufbaus, eine zweite Frage galt dem politischen und kulturellen Aufbau und eine dritte der weiteren Gestaltung der Einheitsfrontpolitik. In diesen Veranstaltungen haben über 40 Prozent der Delegierten ihre Erfahrungen und Überlegungen zu dieser Thematik eingebracht.
Die Partei- und Staatsführung mißt der Organisation der nationalen Einheitsfront eine große nationale und internationale Bedeutung bei. Das fand seinen Ausdruck in der Tatsache, daß alle Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Politbüros des ZK der KP Chinas unter Führung ihres Generalsekretärs Hu Jintao an der Eröffnung der Tagung, an den Debatten im Plenum und in den Gruppen sowie zum Abschluß der Tagung teilnahmen. Das widerspiegelte sich auch in einer an und für sich Nebensächlichkeit, der zufolge die abschließende Pressekonferenz der PKKCV erstmals im Goldenen Saal des Gebäudes des NVK stattfand, der bis dahin dem NVK vorbehalten geblieben war.