Revolution und Evolution (3) - Vom Sieden und der Weltrevolution

Veröffentlicht auf

Wenden wir uns der Revolution beim Abwasch zu. Es ist mitunter verblüffend, wir Werbetexter mit Begriffen umgehen, die ihnen eigentlich nicht zustehen. Aber in gewissem Sinne haben sie eben Recht. Die dialektischen Kategorien funktionieren jeweils auf einer konkreten (geistigen) Systemebene. Will man das Abwaschen also als Entwicklungsebene annehmen (was ein wenig albern ist), dann gibt es natürlich auf dieser Ebene auch Revolutionen. Wer wird daran zweifeln, wenn man sich die Arbeit mittelalterlicher Wächerinnen vor Augen führt.
Nach solchen Ebenen muss man aber fragen. Macht man dies, kommt man zu überraschenden Ergebnissen.
Wir haben unsere Vorstellungen von Revolutionen in der Geschichte aus bildhafter Enge gewonnen. Sagen wir, wir sehen den Sturm auf die Bastille vor uns und das Umbringen vieler lästiger Adliger innerhalb kurzer Zeit zusammen mit dem siegreichen Krieg gegen Fürstenarmeen von außen. Sind wir gründlicher, dann zerfällt bereits diese Revolution "von 1789 bis 1795" in deutlich voneinander abgrenzbare Phasen. Weil die französische Revolution aber so relativ kurz und radikal war, haben wir sie irrigerweise zum Musterbild einer gesellschaftlichen Revolution gemacht, ohne zu hinterfragen, welche äußeren und inneren Systemfaktoren ihr dies erlaubten. Warum entfaltete sich die weltgeschichtliche Bedeutung der englischen bürgerlichen Revolution erst zwei Jahrhunderte nach ihrem Ende - und ausgerechnet unter feudaler Führung ("viktorianisches Zeitalter").?
Lenin war aus praktischen Gesichtspunkten heraus genötigt, dem dialektischen Denken innerhalb der Philosophie einen Betäubungsschlag zu versetzen, von dem sie sich noch nicht wieder erholt hat.
Er hatte die Dialektik der Einheit und des Kampfs der Gegensätze besonders deutlich erfasst. So kam er - man vergleiche das Bild mit dem Siedevorgang - zu dem logischen Schluss, dass die nächste Revolution dort ausbrechen musste und am radikalsten sein konnte, wo die Widersprüche am stärksten waren, sozusagen der Deckel am schwersten bei größter Hitze. Er verstand auch, dass sich gesellschaftliche Entwicklungsgesetze nur über konkretes Handeln verwirklichten, dass also die Menschen gemeinsm ins Wasser gehen mussten, damit das Ufer des Sees über die Ufer treten konnte. Aus Gründen, die er nicht korrigieren konnte, trat der eigentlich zu erwartende Dominoeffekt nicht ein. Seine Menschen waren schon im Wasser, die Uferböschung aber verhinderte das Überspülen des Landes.
Sollte er nun alle wieder rauslaufen lassen - in der berechtigten Erwartung, dass das geschichtliche Wunder um vieles später, wenn überhaupt eintreten würde - wo er doch um das prinzipielle Gesetz wusste, dass die höhere gesellschaftliche Ordnung, der Sozialismus / Kommunismus die niedere, den Kapitalismus, ablösen musste und die nächsten Krisen nicht fern sein konnten?  Nur wie sollte er das jenen durchbeuchteten, wissenbedürftigen Massen verständlich machen?
Er schuf die Voraussetzungen für eine Auffassung, die sein Katastrophen-Erbe Stalin dann zu einem theoretischen Grundpfeiler seines Gedankengerüst weiterentwickelte: Er behauptete die Möglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem Land.  Damit warf er grundlegende Elemente einer dialektischen Betrachtungsweise "in die Tonne".
Heute müssen wir uns mühsam dem Gedanken nähern, dass hier einfach Ebenen der Betrachtung durcheinander geworfen wurden. Natürlich können in jedem Land der Erde Bedingungen geschaffen werden, die denen des Sozialismus nahe kommen. Man darf diese Vorgänge durchaus als Frühsozialismus bezeichnen, sollte sich aber immer der Mühe unterziehen, den Abstand zum gesellschaftlichen Ziel zu erfassen.
Grundthese philosophischer Natur: Alle "sozialistischen Revolutionen" bis zur grundlegenden weltweiten Vorherrschaft sozialistischer Machtverhältnisse sind evolutionäre Schritte innerhalb der "Weltrevolution" - so wie das Sieden des Wassers im Topf mit dem Aufsteigen des ersten Dampfes beginnt und erst endet, wenn kein flüssiges Wasser im Topf verblieben ist.

Veröffentlicht in Vernünftige Welt + Zweifel

Um über die neuesten Artikel informiert zu werden, abonnieren:
Kommentiere diesen Post