Wie viel Gesellschaftsutopien können sich Literaten heute leisten

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Die "junge Welt" hat die Diskussion begonnen. Sie (sowohl die Diskussion als auch die "jugen Welt") ist eine Herausforderung. Thomas Wagner beginnt seine Gegenwartsanalyse der Schreiberlinge mit der Frage
Was möglich wäre

Literatur und Engagement (1): Robert Menasse warnt vor der Faschisierung der Demokratie

Jean Paul Sartre eröffnete am 1.10.1945 die erste Nummer der von ihm gegründeten Intellektuellen-Zeitschrift Les Temps Modernes mit dem Appell: Die Schriftsteller sollten Verantwortung übernehmen und für die öffentlichen Belange eintreten. Der Ruf des Mannes, der 1964 den Literaturnobelpreis ablehnen sollte, erreichte bald auch die Literaten Westdeutschlands. Im Kalten Krieg zwischen den Staaten der NATO und des Warschauer Vertrags engagierten sich viele Autoren gegen Wiederbewaffnung und Vietnamkrieg, bekämpften restaurative Tendenzen in der BRD oder unterstützten den antikolonialen Befreiungskampf. Später ging es um die Repression gegen die RAF-Gefangenen, Atomenergie und die Stationierung US-amerikanischer Nuklearwaffen. Brechts »eingreifendes Denken« und Peter Weiss’ »Ästhetik des Widerstands« entfalteten ihre kritische Wirkung auf beiden Seiten der Blockkonfrontation.

Als diese nach 1989 mit der Niederlage der sozialistischen Staaten beendet war, schienen auch die Zukunftshoffnungen vieler Intellektueller auf nimmer Wiedersehen ins Reich der Utopie verbannt. Wie sieht es knapp 20 Jahre nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus aus? Hat Verlust der in die solide Staatsform gegossenen sozialistischen Alternative den Schriftstellern Sinn für konkrete Utopien endgültig ausgetrieben? (Da muss ich schreien!!! Da ist MEIN Platz!!!)

Auf den ersten Blick mag es so scheinen. Eine von der Wochenzeitung Die Zeit im Jahr 2005 angeschobene Debatte über die heutigen Aufgaben der Romans schien das verbreitete Vorurteil über den politisch harmlosen Charakter der Gegenwartsliteratur zu bestätigen. Das mit großem Getöse angekündigte »Manifest für einen Relevanten Realismus« von Martin R. Dean, Thomas Hettche, Matthias Politycki und Michael Schindhelm (Zeit, 23.6.2005) entpuppte sich als ein literaturpolitischer Rohrkrepierer. Die plakativ erhobene Forderung der Autorengruppe, daß der Gegenwartsroman »die vergessenen oder tabuisierten Fragen der Gegenwart zu seiner Sache machen« müsse, blieb inhaltlich vage und politisch richtungslos. Autoren, die sich im Nachwende-Deutschland zu etablieren verstanden, rangen sich nur selten zu eindeutigen politischen Äußerungen durch. Legten sie sich doch einmal fest, dann bejahten sie nicht selten eine »rot-grüne Realpolitik«, die für verbrecherische Kriegseinsätze und drastische Sozialkürzungen verantwortlich war. Der traurige Höhepunkt dieser Art von »Engagement« war erreicht, als sich Julie Zeh, Katja Kullmann, Benjamin Lebert, Feridun Zaimoglu und Durs Grünbein im Bundestagswahlkampf 2005 einem Wahlaufruf von Günter Grass für die SPD unter Bundeskanzler Gerhard Schröder anschlossen. (Blinde oder Kriecher –das ist hier die Frage. Ob sie so in die FAZ wollten?) Ganz zu Recht vermißte die Autorin Tanja Dückers bei dieser Aktion den utopischen Überschuß: »Wenn Literatur sich mit Politik beschäftigt, sollte sie nicht den Status quo bestätigen (dafür sind die Realpolitiker da), sondern den schlechten Ist-Zustand mit dem vergleichen, was möglich wäre.«

Tatsächlich gibt es wieder oppositionelle Kräfte, die verschwunden geglaubte soziale und politische Alternativen wieder ans Licht zu holen bemüht sind. Namen wie Dietmar Dath, Robert Menasse, Tanja Dückers, Raul Zelik oder Ilija Trojanow und einige andere mehr stehen, bei allen sonst zu konstatierenden Unterschieden, für eine politische wache Literatur, die sich nicht damit zufrieden gibt, nur zu beschreiben, was augenscheinlich der Fall ist, sondern darüber hinaus nach dem forscht, was außerhalb warenförmiger Beziehungen Menschen möglich ist. Wo der weltweit geführte »Krieg gegen den Terror« kein Ende nimmt, bürgerliche Freiheiten drastisch beschnitten werden und der Sozialstaat zerstört, formulieren sie ihren Widerspruch. Einige dieser Stimmen werden wir in dieser Reihe vorstellen und auf ihr gesellschaftskritisches Potential hin überprüfen.
(der Beginn einer Reihe von Thomas Wagner in der „jungen Welt“ hier vom 18.1.08)

Veröffentlicht in politische Praxis

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