Was singen die Berline Stadtmusikanten...???

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Perspektiven für eine soziale Opposition

Ein Diskussionsbeitrag der Berliner Stadtmusikanten - nicht nur zum Treffen in Kassel am 28. Juni

 

Bevor sich die bundesdeutsche Politik gänzlich in den diesjährigen Wahlkampf verabschiedet, ist ein kurzes Resümee der bisherigen Krisenkonflikte angebracht. Und mehr als das, denn die aktuelle Lage ist von einem erklärungsbedürftigen Widerspruch geprägt: Einerseits bescheinigen fast alle Beobachter der kapitalistischen Weltwirtschaft die schwerste Krise seit vielen Jahrzehnten. Erstmals seit 1945 sei 2009 ein Rückgang der wirtschaftlichen Leistung im Weltmaßstab zu erwarten. Die stolze private Wirtschaft ruft nach staatlicher Hilfe. Viele, nicht nur linke Analysen klingen so, als wäre der globale Kapitalismus längst pleite und weigere sich nur, den Gerichtsvollzieher einzulassen. Andererseits aber treffen die Regierungen der großen und kleinen kapitalistischen Mächte auf geringen Widerstand, obwohl ihre Sanierungsprogramme mit skandalöser Offenheit das Eigentum der bürgerlichen Klassen verteidigen und die Lebensumstände der lohnabhängigen Klasse verschlechtern. Gewerkschaften und soziale Bewegungen hatten in der Bundesrepublik mehr als anderthalb Jahre Zeit, sich auf den Beginn der Krise vorzubereiten, seit dem Beginn der US-Finanzkrise im Sommer 2007. Trotzdem zeigen sie sich in ihren Reaktionen unsicher und weithin an alte Gewohnheiten gebunden.

 

Wenig Klarheit besteht darüber, welche gesellschaftlichen Gruppen sich in den aktuellen Auseinandersetzungen gegenüberstehen. Manche Leute tragen den Kapitalismus demonstrativ zu Grabe. Nur sagt das noch nicht viel darüber aus, was denn an der heutigen Gesellschaft als "kapitalistisch" abgelehnt wird und wie diese Ablehnung wirksam werden soll. Es fehlen eigene lang- oder auch nur mittelfristige Perspektiven für die kommenden Konflikte. Nicht während des Rückgangs der wirtschaftlichen Leistung, sondern nach der Rezession, wenn sich die privaten Unternehmen wieder konsolidieren, die Arbeitslosenzahlen aber erst ihre höchsten Stände erreichen, dann wird gekürzt werden: Für das kommende Jahr geht die Bundesagentur für Arbeit von – jahresdurchschnittlich! – 4,5 Millionen Arbeitslosen aus, Ende 2010 könnten die Arbeitslosenzahlen in der Bundesrepublik bei 5 Millionen liegen. Nicht das eilige Werkeln an der nächsten und übernächsten Kampagne, nicht ein Streit um einen Aktionstag vor oder nach den Bundestagswahlen, sondern eine Konfliktstrategie für die nächsten zwei Jahre ist nötig. Dazu müssen wir aus einer kritischen Bilanz sowohl der eigenen Kräfte wie der Möglichkeiten der Gegenseite praktische Konsequenzen ziehen.

 

Wo stehen wir?

 

1. Für die Bundesrepublik sagt die Frühjahrsprognose der Wirtschaftsforschungsinstitute einen Rückgang des Bruttoinlandsproduktes um 6 Prozent im laufenden Jahr voraus. Das ist ein bisher in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte unbekannter Einbruch. Noch nie ging die wirtschaftliche Leistung, gemessen am preisbereinigten Bruttoinlandsprodukt, im Vergleich zum Vorjahr so stark zurück. Wenn wir aber die Ausmaße dieses Rückgangs erfassen wollen, müssen wir den Ausgangspunkt des Vergleichs im Auge behalten: Das wirtschaftliche Leistungsniveau der Bundesrepublik im Jahr 2008. Und dann ergibt sich, daß ein Rückgang um 6 Prozent gegenüber dem Jahr 2008 die wirtschaftliche Leistung der bundesdeutschen Nationalökonomie etwa auf das Niveau des Jahres 2004 zurückwirft. Das ist ein deutlicher Rückgang, eine Katastrophe ist es aber wohl noch nicht: Denn die BRD war im Jahr 2004 auf hohem Niveau reproduktionsfähig und befand sich nicht in einer Notlage, die eine Fortführung des Kapitalismus in Frage gestellt hätte.

 

2. Wenn sich auch vieles in den letzten zwei Jahren geändert hat – das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen hat sich nicht geändert. Die Klassenkämpfe der letzten Jahrzehnte haben die Kapitalisten gewonnen. Das zeigt sich nicht nur in der Entwicklung der Lohnquote, d.h. der Verteilung des jährlichen Wirtschaftsleistung. Mehr noch zeigt es sich im Bestand der in den letzten Jahren akkumulierten Reichtümer: Das Statistische Bundesamt protokolliert getreu den jährlichen Zuwachs des Anlagevermögens im Inland. Zudem nahm in der gleichen Zeit die Nettoauslandsvermögensposition der Bundesrepublik deutlich zu, d.h., dem deutschen Kapital gehören auch immer mehr Dinge, die sich im Ausland befinden. Wenn auch manche Profiterwartung sich nicht erfüllt haben mag und die Krise mit einer "Entwertung" von Kapital einher geht: Die "Früchte des Aufschwungs" waren systematisch ungleich verteilt – nun versuchen ihre Eigentümer, mit ihren erweiterten Mitteln das beste aus der Krise zu machen. Wer nur auf den Rückgang und die Verteilung des BIP schaut, der ignoriert die vergrößerten materiellen Möglichkeiten, die sich das Kapital in den letzten Jahren zulegen konnte. Genauer gesagt: Er ignoriert das Kapital überhaupt, das Eigentumsverhältnis, das der Entwicklung der Produktion und der Verteilung der Einkommen zugrunde liegt. Das bundesdeutsche Kapital kann in seiner Krisenstrategie auf die "Früchte des Aufschwungs" von 2005 bis 2008 zurückgreifen. Und wie wenig tot der Neoliberalismus ist, das zeigen die gerade erst beschlossene Schuldenbremse für die öffentlichen Haushalte und die Pläne für Steuersenkungen nach der Bundestagswahl.

 

3. Deshalb haben die Herren, die sich gern "die Wirtschaft" nennen, keine Scheu, von der tiefsten Krise der letzten Jahrzehnte zu sprechen. Der Staat, den sie um Hilfe angehen, ist der bürgerliche Staat. Es gibt niemanden, der global oder auch national die Herrschaft des Kapitals in Frage stellt. Gerade deshalb ist man mit der Rede vom "Epochenumbruch" rasch bei der Hand, weil eine Machtfrage gar nicht gestellt wird. Die aktuelle Epoche der Weltwirtschaft und Weltpolitik begann nicht 1929 oder 1945, sie begann 1989 und dauert weiter an. Die nachhaltige Wirkung des Umbruchs von 1989 ist bis in die aktuellen Krisendiskussionen der Linken präsent: In der frappierenden Harmlosigkeit der offerierten Alternativvorschläge. Harmlos darin, daß soziale und politische Gegner der eigenen Vorschläge nicht wirklich in die Überlegung aufgenommen werden. Und harmlos darin, daß selbst auf das Ziel einer demokratischen gesellschaftlichen Kontrolle der ganzen Wirtschaft weitestgehend verzichtet wird, die Forderungen vielmehr im konsumtiven Bereich verbleiben. Dabei läge eigentlich nichts näher, als angesichts der Strukturkrise der Autoindustrie und der auf allen Kanälen diskutierten ökologischen Krise die Tauglichkeit von Privateigentum und Markt für die nötige nachhaltige Entwicklung der produktiven menschlichen Möglichkeiten in Frage zu stellen – eigentlich.

 

4. Tatsächlich aber findet genau das nicht statt. Außerhalb der linken Szenelandschaft gibt es keine Debatte über Alternativen zum Kapitalismus, sondern bestenfalls über Alternativen im Kapitalismus. Darin spiegelt sich nicht allein eine allgemeine weltpolitische Lage, sondern ebenso eine sehr deutsche Sonderentwicklung:

 

4.1. Erst eine offen gewerkschaftsfeindliche Politik der SPD (Agenda 2010) und die Sozialproteste der Jahre 2003 bis 2006 haben ermöglicht, was in anderen Ländern der EU zum normalen politischen Geschäft gehört: Die Etablierung einer parlamentarischen Linken, die reformistische Vorschläge für eine menschenfreundlichere Verwaltung des Status quo unterbreitet. Wie vorsichtig die Partei "Die LINKE." dabei verfährt, zeigte sich in der Debatten vor der Demonstration am 28. März. Die LINKE. ist als strikt parlamentarische Partei weder willens noch in der Lage, auf die Verschlechterung der Lebenslage der lohnabhängigen politisch organisierend zu reagieren. Sie behauptet ihre Minderheitenposition im politischen System der Bundesrepublik - nicht mehr, nicht weniger: Sozialliberale Politik mit kapitalismuskritischer Begleitmusik.

 

4.2. Innerhalb der Gewerkschaften sind reformistische Positionen keineswegs Konsens. Die exportorientierten Zweige der deutschen Wirtschaft können ihren Stammbelegschaften eine Alternative zu einer konfliktorientierten Solidarität anbieten: die Chance, der "beste Verlierer unter den global Erpreßten" (Werner Sauerborn) zu werden. Die wirtschaftspolitischen Vorschläge der IG Metall enthalten keine Vorschläge für eine sozialökologische Konversion der deutschen Industrie, sondern setzen auf die hohe deutsche Wettbewerbsfähigkeit. Auch in der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, die vor allem auf den Binnenmarkt orientiert ist, wird der Kampf um Weltmarktanteile nicht in Frage gestellt – nur soll er durch höheren Konsum und entsprechende Importe eingebettet werden. Wie sehr die großen deutschen Gewerkschaften in der Defensive sind, zeigt sich an der Arbeitszeitfrage: Während das Kapital sie mit Entlassungen und Kurzarbeit auf die Tagesordnung setzt, weichen die Gewerkschaften aus. Die Gewerkschaften haben 2002 mit ihrer Beteiligung an der Hartz-Kommission selbst die Verschärfung der Konkurrenz am Arbeitsmarkt und die Ausbreitung des Niedriglohns herbeigeführt. Wenn auch in der nächsten Runde asozialer Kürzungen den Erwerbslosen die praktische Solidarität verweigert wird, dann müssen sie sich nicht wundern, daß die derart abgeschriebenen nach einer Rückkehr auf einen Arbeitsplatz keinen Sinn in einer gewerkschaftlichen Organisierung sehen.

 

4.3. Die Sozial- und Erwerbslosenproteste schließlich leiden daran, daß sie keine greifbaren Erfolge vorweisen können und trotzdem regelmäßig ihren Rückhalt neu organisieren müssen: Die Erwerbslosen von gestern sind nicht die Erwerbslosen von heute. Ständig werden Menschen aufs Neue arbeitslos, während andere aus der Erwerbslosigkeit ausscheiden. Aber nicht jede/r, die zu einer unabhängigen Sozialberatung geht, nimmt dann auch an der politischen Arbeit der Gruppen teil. Es ist nicht gelungen, um das Forderungspaket der Sozialproteste "500 Euro Regelsatz – Mindestlohn 10 Euro/Stunde – Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 30 Stunden" konkrete Konflikte zu führen, in denen diese Forderungen praktische Solidarität befördert hätten. Zwar zielen die drei Forderungen zusammen - und nur zusammen! - präzise auf die gemeinsamen Interessen der lohnabhängigen Klasse. Das hilft aber nur, wenn die Leute in der Klasse das auch so sehen. Die aber schweigen mehrheitlich. Die Gewerkschaften halten deutlich bescheidenere Forderungen für allein realistisch. Und die parlamentarische LINKE hat sich erst kurz vor den Demonstrationen vom 28. März zur Aufnahme der Mindestlohn- und Regelsatzforderung entschließen können. Der Ausbau der Partei "Die LINKE." hat bisher mehr Aktivisten gebunden, als Ressourcen für die Weiterarbeit vor Ort zugänglich gemacht wurden.

 

4.4. Die mehr oder weniger radikale globalisierungskritische Linke schließlich ist hierzulande über "Bündnispolitik" in klassenpolitischen Fragen kaum hinaus gekommen. Das wäre an sich noch kein Mangel, wenn nicht zuweilen verbalradikale Kapitalismuskritik mit einem opportunistischen Nachgeben in den konkreten Einzelheiten einher ginge. Oder wenn nicht immer wieder der Hang zur Verbreiterung des Bündnisses dazu verführte, das wahrheitswidrig der bestimmte soziale Charakter der eigenen politischen Intervention geleugnet wird und man sich als der – vorgeblich bessere – Sachwalter eines vermeintlichen Gemeinwohls präsentierte. Sozialer Protest ist aber keine Politik für alle. Er ist gegen politische und soziale Herrschaft gerichtet und richtet sich deshalb gegen die, die da herrschen, im Großen wie im Kleinen.

 

Spezifisch deutsch sind an dieser wenig erfreulichen Gesamtlage zwei Dinge: Erstens die besondere Präsenz des Epochenumbruchs von 1989, der nicht nur zu runden Jahrestagen als Triumph von Marktwirtschaft und Bonner Demokratie gefeiert wird, sondern ganz alltäglich in der besonderen Lage Ostdeutschlands heutige Politik prägt. Zweitens der gesamtdeutsche Mangel an einer alltagstauglichen Kultur individueller Widerständigkeit, ohne die auch selbstorganisierte kollektive Aktionen nicht funktionieren.

 

5. Wenn wir an dieser Lage etwas ändern wollen, dann braucht es nicht nur den vielbeschworenen "langen Atem". Es braucht vor allem konkrete Verabredungen zur Zusammenarbeit, aus denen einmal eine handlungsfähige "gesellschaftliche Linke" entstehen könnte. Von allein entsteht Solidarität nicht: Gerade in der Krise machen sich die Betroffenen Konkurrenz, werden soziale und kulturelle Unterschiede so lange wie möglich hochgehalten.

 

Noch haben wir Zeit, Auseinandersetzungen vorzubereiten. Denn vor den Bundestagswahlen wird die Regierung viel wegstecken, in den Betrieben und beim Staat sind noch einige Reserven zur Fortsetzung des Status quo vorhanden und betriebswirtschaftliche Sanierungsstrategien brauchen auch ihre Zeit: Erwerbslosigkeit ist ein "nachlaufender Indikator". Zugleich ist aber auch klar, daß die Bundestagswahlen zur Legitimation einer künftigen staatlichen Krisenstrategie genutzt werden wird: Die neue Regierung - ob mit oder ohne SPD wird sich zeigen - wird auf ihre demokratische Mehrheit verweisen. Und sie werden damit viele Menschen beeindrucken, nicht zuletzt in den Gewerkschaften. Die wirtschaftliche Krise hat zu keiner Krise der politischen Geschäfte geführt, von einer Erschütterung des politischen Systems ganz zu schweigen. Deshalb ist die parteiunabhängige Kooperation der gewerkschaftlichen und sozialpolitischen Linken unerläßlich.

 

Was tun?

 

Auch für die gewerkschaftliche und sozialpolitische Linke gilt, daß der Anspruch auf die Vertretung der Interessen vieler Menschen und die tatsächliche soziale Verankerung der Linken zwei Paar Schuhe sind. Wichtiger als die Diskussion über den politisch korrekten Titel und Termin für die eine oder andere Aktion oder die erschöpfende Diskussion eines möglichst erschöpfenden Forderungskataloges für alle Branchen und prekären Lebenslagen ist deshalb die gemeinsame Vorbereitung auf die Auseinandersetzungen, die wir heute schon voraussehen, aber nicht mit Datum und Veranstaltungsort planen können. Und zwar nicht nur Auseinandersetzungen mit der Gegenseite, mit Kapital und Staat, sondern auch unter uns: Die demokratische Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse - egal ob lokal, regional, national oder global - kann immer nur die Form für die menschenfreundliche Austragung von Konflikten liefern, in denen solidarische Verständigung entstehen, aber nicht vorausgesetzt werden kann. Ohne Widersprüche gibt es kein lebendiges Miteinander. Es wird nicht immer eine Lösung geben, die für alle – auch nicht für alle "Lohnabhängigen", alle "abhängig Beschäftigten" oder wie auch immer wir den Kreis der Leute umschreiben, der uns wichtig ist – gut sein könnte. Und selbst wenn es diese gute Lösung gibt, wird sie schwer zu finden sein - derweil die gemeinsam Suchenden heftig miteinander streiten. Erst recht gilt dies in unserer Situation, in der gegen mächtige Gegner die Möglichkeit solidarischer Lösungen überhaupt erst durchgesetzt werden muß und das "cui bono" - "Wem nützt es?" - in keiner Weise vorher ausgemacht ist. Schließlich setzen wir uns mit unserer politischen Arbeit nicht nur in Gegensatz zu den Unternehmern, sondern auch zu einem großen Teil, oft zur Mehrheit unserer Kollegen. Denn wir erheben einen Anspruch auf Mitsprache, ja auf Mitbestimmung in Angelegenheiten, die doch den Chefs vorbehalten sind: die Organisation von Arbeit und Leben. Wir verlassen unseren anerkannten Platz in der Gesellschaft, und "mischen uns in Dinge, die uns nichts angehen". Statt einer "Bewegung der Mehrheit im Interesse der Mehrheit" sind Sozialisten und Kommunisten in der bürgerlichen Gesellschaft Angehörige einer politischen Minderheit gewesen. Gerade deshalb sollten wir uns für die Klärung von Widersprüchen Zeit nehmen.

 

Sozialpolitisch sind es u.E. drei Felder, auf denen in der nächsten Zeit gemeinsame Arbeit nötig und wirksam sein könnte:

 

1) In den kommenden Monaten werden die Entlassungen nicht mehr alle fein verteilt werden können. Irgendwann endet die derzeitige Kurzarbeiterregelung. Es wird deshalb parallel in verschiedenen Betrieben zur größeren Konflikten um größere Entlassungen kommen. Denn die Perspektive ist klar: entweder ein neuer Job, koste es was es wolle - oder das ALG II. Eine praktische, solidarische Unterstützung werden die Kolleginnen und Kollegen in jedem einzelnen Konflikt brauchen – und es wird Chancen geben, solche Belegschaften zu vernetzen. Ob die Chancen genutzt werden, hängt von den Beteiligten ab. Wie schwierig diese Zusammenarbeit zu machen sein wird, macht die beliebte Rede vom "politischen Streik", ja vom "Generalstreik" deutlich - über so große Politik wird halt gerne geredet. Aber schon der Gedanke an Solidaritätsstreiks, bei denen die momentan stärkeren Teile der Klasse den schwächeren helfen könnten, ist nahezu unbekannt und wird unter Hinweis auf das geltende Tarifrecht eilig abgelehnt.

 

2) Die derzeit dominierende Struktur im Bereich der Umsetzung des ALG II, die "ARGEn", müssen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes umgebildet werden. Das wird nach der Bundestagswahl geschehen und die organisatorische Grundlage für die dann folgende Arbeitsmarktpolitik schaffen. Im Lauf des Jahres wird sich in den Kassen der Arbeitsagentur der Rückgang der Beschäftigung und die Zunahme der Arbeitslosigkeit auswirken, die Rücklagen aus dem Aufschwung reichen nicht ewig. Deshalb wird es 2010 einen neuen Versuch zur Kürzung von Sozialleistungen geben, auch wenn die Regelsätze in ALG I und ALG II vielleicht nicht direkt angegriffen werden: Zumutbarkeitsregeln, Arbeitszwang und Sanktionen bieten viele Möglichkeiten zur Senkung der "passiven Leistungen". Wenn wir dieser Repression und weiteren Sozialkürzungen und begegnen wollen, dann müssen wir jetzt für eine deutliche Regelsatzerhöhung, einen entsprechenden Mindestlohn und die nötige Arbeitszeitverkürzung eintreten. Wir dürfen uns nicht auf eine "Ein- oder Zwei-Punkt-Bewegung" reduzieren lassen: 500 - 10 - 30. Das ist das Mindeste.

 

3) In Krisenzeiten sinken die Chancen für Absolventinnen und Absolventen aller Bildungseinrichtungen, nach der Ausbildung einen Job zu finden. Zugleich wird die Politik unter dem wohlklingenden Titel der "Förderung der Wissensgesellschaft" allerlei Warteschleifen einrichten, in denen mehr oder weniger junge Menschen für eine gewisse Zeit vom Arbeitsmarkt genommen werden. Zusammen mit der chronischen Unterfinanzierung des Bildungssystems, den absehbaren Kürzungen in Zeiten knapper Kassen und dem traditionellen Widersinn des deutschen Bildungswesens - vom gegliederten Schulsystem bis zur Professoren-Universität - wird das zu einer Krise im Bildungsbereich führen, die mehr als einen Bildungsstreik provozieren wird. Diese Konflikte können und müssen für emanzipatorische Bildungsansätze genutzt werden. Denn wenn auch die alte Losung der Arbeiterbewegung nicht stimmt: Wissen ist nicht Macht, zu Macht gehört noch einiges mehr - so stimmt doch die Umkehrung: Unwissen ist Ohnmacht.

 

In diesen kommenden Konflikten geht es nicht um avantgardistische Ignoranz oder wohlwollendes Verständnis für die real existierende Ohnmacht der abhängig Beschäftigten und Unbeschäftigten, sondern um die Erklärung dieser Ohnmacht und damit um die Erklärung der ebenso real existierenden Verantwortung der Einzelnen, die eigenen, wenn auch schwachen Kräfte für eine solidarische Alternative einzusetzen. Und dabei zeigt sich rasch: Schon heute ist konsequenter solidarischer Widerstand gegen das Kapital ohne eine politische Auseinandersetzung mit dem Gedanken, daß man einmal den ganzen Laden übernehmen und ziemlich anders arbeiten muß, nicht zu haben. Aber erst wenn wir die Frage nach einer demokratischen gesellschaftlichen Kontrolle der ganzen Wirtschaft wieder auf die Tagesordnung setzen können, dann wird mit der Anknüpfung an die demokratischen und egalitären Potentiale von 1989 auch die antikommunistische Epoche zu Ende sein, die vor zwanzig Jahren mit der sang- und klanglosen Kapitulation der osteuropäischen Politbürokratien vor dem Kapital begann.

 

 

Kontakt: die üblichen Verdächtigen oder aktion@hausderdemokratie.de

 

Veröffentlicht in politische Praxis

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