Also wenn schon Theater, dann Grips ...

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sagt zumindest die jW. So viele Kritiken wie diese Truppe hat deutschlandweit keine bekommen ... und so viele begeisterte sowieso nicht. Also unbedingt vormerken: Irgendwann klappts bestimmt, sich einmal so richtig den Geist aufzujugendlichen ... dann hin!

 

02.12.2010 / Feuilleton / Seite 13Inhalt

Drehen Sie bei!

Das Grips Theater Berlin tourt mit einem Stück über Flüchtlinge

Von Anja Röhl
Links auf der Bühne eine Art Badeplattform auf Holzbohlen. An ihren Seiten sind Taue gespannt. Darauf zwei Liegestühle, zwei riesige Wasserkanister, Sonnenschirm, Kühlschrankattrappe, Colaflaschen, ein Rettungsring. Im Hintergrund rechts eine zusammengeflickte Landkarte: das Mittelmeer blau, darüber Europa, darunter Nord- und Mittelafrika. Darauf zwei rote Kreise. Einer am unteren Rand (Ghana), der zweite weit oben (Potsdam).

Auftritt der drei Schauspieler: »Wir sind Jugendliche und junge Erwachsene aus ganz Deutschland.« Die drei wollen »eine Geschichte erzählen«, »eine wahre Begebenheit«. Sie singen ein Lied wie aus einem Musical: »Du träumst so hin und her, willst an ’nen Strand am Mittelmeer. Die Schule nervt total, der Alltag wird zur Qual, einfach nur gehn, die Sonne seh’n« oder so ähnlich. Der Song reißt ab, Szenenwechsel: Der Junge im Liegestuhl auf der Plattform, die beiden Mädchen kämpfen unten in den Wellen. Stille, Unterwasserblubbern. Wie geht der Herzschlag beim Ertrinken?

Die Mädchen umklammern einander. Als sie mit letzter Kraft die Plattform erreichen, bietet ihnen der etwas angeberische Kerim eine Cola an. Er ist »gestern« angekommen. Im Ferienhotel? Die Szene mutet etwas irreal an. Die Mädchen sind erleichtert, es »geschafft« zu haben, Naischa und Kerim singen ein Lied über das traumhafte Europa. Dalila Abdallah verleiht ihrem Gesicht dabei einen so köstlich zutreffend werbefernsehmäßigen Ausdruck, daß der ganze Saal brüllt vor Lachen.

Mit dieser Auftaktszene wird das Publikum maximal gefesselt. Das Stück enthält dann derart viele traurige Wahrheiten, man würde sie in einer Dokumentation kaum aushalten. In das brüllende Lachen ruft Jamila (Veronika Naujoks), Europa sei gar nicht so toll. »Da gibt’s auch arme Menschen.« In Italien war sie noch nie. »Eigentlich kenn’ ich nur Deutschland, da lebe ich, in Potsdam, schon immer.« Die Geschichte dieser Dreizehneinhalbjährigen beginnt läppisch. Sie erzählt vom Kindergeburtstag bei ihrer besten Freundin Lena: gefeiert, hochgeworfen, Schokokuchen … Am frühen Morgen wurde Jamila dann »rausgeholt«. Ihre Mitspieler werden zu Polizisten. Mit ungeheurer Verwandlungskunst gibt Dalila Abdallah – eben noch Cousine, Mutter, beste Freundin Lena – den Brutalo-Bullen, der nicht mal das Duschen zuläßt. Die Mutter bricht zusammen. Es wird um sich geschlagen, getobt. Die Kleinen haben eingekackt, schreien. Der Vater wird weggezerrt. Erst im Flugzeug begreift Jamila, daß ihre Mutter mit den Kleinen zurückgeblieben ist und sie in ein fremdes Land muß, Ghana, wo sie noch nie war und kein Wort versteht.

Kerim (Adil El Bouamraoui) rappt: »Daß ich wirklich existiere, steht auf keinem Papier, nur ein Knast (oder Paß) steht zwischen meinem Leben und mir!« Er war dreimal in Europa, wurde jedes Mal wieder »abgeschoben, weggeworfen, wie Schrott auf den Müll, (...) weil mich niemand will, (...) weggeworfen, abgeschoben, ich dreh’ mich im Kreis …«

Der Potsdamer Schülerin Jamila bleibt das ärmliche Leben in Ghana fremd. Die Sprache lernt sie von einer etwas älteren Cousine, mit der sie arbeitet (Bananen an Touristen verkaufen). In beiden reift der Entschluß, nach Europa zu fliehen. Eindrucksvolles Lied: »Ich muß hier weg«. Den weiteren Verlauf des Stückes beherrscht die beschwerliche Reise der Mädchen, die harmlos anfängt und, je länger sie dauert, immer grausamer in allen ihren Einzelheiten wird.

Tausendmal hat man darüber gelesen, aber nie sah man es derart vor sich, obwohl doch alles nur gespielt wird, mit Liegestühlen als vollgestopften Lastwagen und Colaflaschen als Babys und später Bananen. Der Rettungsring gibt das Lenkrad. Immer wird das Exemplarische gehalten, nie die erste Szene verlassen. Jamila erzählt; Naischa und Kerim schlüpfen in die Nebenrollen: Schlepper, Grenzkontrolleure, Lkw-Fahrer. Den Schutz des jüngeren Mädchens vor Zudringlichkeiten bezahlt das ältere mehrmals mit dem eigenen Körper, bis sie die Kleine als Jungen verkleidet. Die beiden betteln. Gegenüber Berliner Touristen gibt sich Jamila als Potsdamerin zu erkennen. Über den Abgrund zwischen dort und hier muß man lachen. Auf dem Höhepunkt aller Grausamkeiten und Verzweiflungen in der Handlung ist das Lachen über die Touristen-Karikatur sehr befreiend.

Auch mit dem Geld der Touristen landen die Mädchen endlich am Meer, auf einem Schlauchboot. Noch voller als der vollgestopfte Lastwagen, auf dem sie in der Wüste zwei Leute verloren haben, ohne angehalten zu haben, wo Jamila das traurige Lied sang: »Ich hab’ noch nie den Tod gesehen!« Etwa ein Jahr dauert so eine »Reise« in der Regel. Überall lauern Soldaten, Betrüger, drohen Vergewaltigung, Haft, Tod, Hunger, Durst. Am Ende ist da das Meer, es ist blau, die Wellen sind hoch, und dann ist da das Schlauchboot, in das man steigen muß.

Auf dem Meer nähern sich Frontex-Soldaten, bezahlt auch von unseren Steuergeldern. Kurz wird erklärt, was Frontex ist. Aus Lautsprechern tönt: »Drehen Sie bei«! Menschen werden über Bord gestoßen, ein Fischerboot traut sich nicht zu helfen. Der folgende Szenenwechsel erinnert an das Wegziehen eines Schleiers von der Bühne. Naischa ruft am leergefegten Strand: »Jamila kommt niemals nach Hause! Die Rettungsinsel existiert nicht!«. Akklamation: Die da draußen sind, in den Lagern, in der Wüste… Und man sieht sie vor sich, Hunderte, Tausende, Hunderttausende, eine gespenstische Wirkung.

Wir sind nicht in die Illusion abgetaucht, sondern hiergeblieben, wo exemplarisch gespielt wurde. Deshalb trauern wir nachher nicht um eine einzelne, sondern um alle. Die Bilder der in Schlauchbooten Gestrandeten werden wir nicht mehr los. Letztes Lied, laut und kräftig: »Stoppt das Sterben in der Wüste und im Meer / wir wollen keine Festung Europa / SOS for human rights!« So heißt das Stück, und so heißt die Kampagne, in deren Rahmen es durch die BRD touren wird. Es handelt sich um echtes Agit-Prop-Theater, aber nicht hölzern, nicht altbacken, sondern jung, wild, tieftraurig, manchmal witzig, immer konsequent und kenntnisreich auf seiten der Schwachen. Es macht nicht nur deren Leid bewußt, sondern auch deren Mut, Kampfgeist und Kraft. Ihnen, nicht den Mächtigen gehört die Zukunft, wann, das ist unter anderem von jedem von uns abhängig.

Nächste Vorstellungen heute bis Sa. im Grips Mitte, 2011 bundesweit auf Tour

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