Die Driebe-Schule. Theoretische Debatte über die Epoche, in der wir leben (3)

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Die Frage ist nun, in welcher Qualität müssen die vier Merkmale des Sozialismus vorliegen, damit wir ihn als solchen anerkennen sollten.

Um es vorauszuschicken: Es darf auf keines der vier Merkmale ganz verzichtet werden. Die Gewichtung kann verschieden sein.

Wie also war das im zurückliegenden „Realsozialismus“?

  1. Die Zielvorstellung der Gesellschaft hatte sich bereits grundlegend geändert. Dies kann man im Großen, am Ziel der gesamten Politik, festmachen, aber bereits ansatzweise im Denken der Menschen selbst. Selbst, wenn die Selbstverständlichkeit bestimmter sozialer Errungenschaften, allen voran die fest verwurzelte soziale Sicherheit, letztlich eines der Probleme wurde, die zum Untergang der Gesellschaft beigetragen hat - oder vielleicht gerade deshalb. Auf diesem Boden keimten bereits Ansätze neuer zwischenmenschlicher Beziehungen, deren Hauptelement eben nicht ellenbogengestützter Egoismus war. Und es sollte natürlich nicht übersehen werden, dass das Anstreben des „richtigen Zieles“ eben nicht das Wesen einer Erscheinung bestimmt. Es bliebe sonst völlig unerklärlich, wieso sowohl wesentliche Teile der eigenen Bevölkerung sich ihrem System entfremdeten als auch die Führungen ihrer Bevölkerung bis hin zu menschenverachtenden Methoden des Umgangs mit ihr. Es muss also „der Wurm“ an anderer Stelle nagen.
  2. Die Antwort auf dieses Merkmal scheint auf den ersten Blick klar: Es war doch (von Land zu Land zwar mit unterschiedlicher Absolutheit) im Wesentlichen alle Wirtschaft verstaatlicht. Wir sollten uns aber erst einmal nicht „systemtheoretischen“ Betrachtungsweisen verschließen, d.h. Gesetze in Natur und Gesellschaft wirken natürlich nur rein, sofern man in sich geschlossene Systeme betrachtet. Gesellschaftliche Gesetze wirken auch nicht dadurch, dass man sie postuliert (wobei sie den Menschen betreffend allerdings oft als sich selbst verwirklichende Prophezeiungen entgegentreten können), sondern dadurch, dass sie unabhängig vom einzeln handelnden Menschen vorhanden sind. Die reinste Ausprägung der Gesetze aller Warenproduktionen erleben wir im Kapitalismus. Sozialistische Gesellschaften können sie nur insoweit „nutzen“ bzw. „abschaffen“ (was Blödsinn ist), wie sie sich allen Systemelementen des Kapitalismus entziehen könnten. Natürlich wirkt, selbst wenn man es im Inneren nicht so nennen brauchte, im Prinzip auch in den kapitalistischen benachbarten „sozialistischen“ Staaten das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate. Der ungünstigen Ausgangslage der konkreten „realsozialistischen“ Staaten wegen wirkte dieses Gesetz sogar objektiv verheerend. Mindestens genauso verheerend wirkten allerdings materialistisch-deterministische Auffassungen der eigenen ideologisch-praktischen Führung. Mit der Herstellung der materiellen Grundlagen für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft in Form gesellschaftlichen Eigentums (dessen tatsächliche Existenz ich allerdings ebenfalls in Zweifel ziehe) entwickelt sich nicht automatisch sozialistisches Bewusstsein, schon gar nicht, wenn die prinzipiell auch noch im entwickelten Sozialismus überlebenden antisozialistischen Verhaltensweisen vorsätzlich durch das benachbarte kapitalistische System verstärkt werden.
  3. Es gibt keinen Begriff, der enger mit „Sozialismus“ verbunden ist als „Demokratie“. Ich meine hier nicht die Floskel pseudosozialdemokratischer Losungen vom „demokratischen Sozialismus“, die von Vornherein die Bedeutung der Macht- und Eigentumsverhältnisse unberücksichtigt lässt. Demokratie ist grundsätzlich eine Herrschaftsform, die, sozialistisch ausgelegt, tendenziell auf die gleiche Beteiligung aller Teile der Gesellschaft und damit auf ihre eigene Aufhebung als Herrschaft zielt. Der erste notwendige Schritt auf diesem Weg ist die rigorose Bekämpfung all jener Mittel, die es einer zahlenmäßig kleinen Gruppe von Menschen, die Ihrer Stellung im Wirtschaftssystem als Kapitalistenklasse bezeichnet werden kann, ermöglicht, die Willensbildung der gesamten Gesellschaft ihrem eigenen Willen unterzuordnen. Es mögen sich andere darüber streiten, ob der Begriff der Diktatur des Proletariats für diese Vorgänge von den Worten her klug gewählt oder heutzutage in der Anwendung geeignet ist. Aber es wird niemand bezweifeln, dass Menschen sowohl manipulierbar als auch praktisch käuflich sind. Daraus folgt zwingend, dass es unter kapitalistischen Bedingungen Geldbesitzern kraft dieser Eigenschaft möglich ist, direkt bestimmend auf gesellschaftliche Entscheidungsprozesse einzuwirken. Daraus folgt aber auch, dass dies auch indirekt möglich ist, indem diese Geld-, genauer Kapitalbesitzer durch Verbreitung "korrigierter" Wahrheiten selbst Menschen, die sich um eine eigene Meinung bemühen, zu einer ihnen, den Kapitalisten, gemäßen Meinung zu führen. Die Stimme eines Kapitalbesitzers ist also Tausende, wenn nicht Millionen Normalstimmen wert, sofern er über das Mittel Kapital entsprechend verfügt. Demokratisch sind also durchaus auch Zwangsmaßnahmen, solche Mehrbestimmer auf das Maß eines Menschen anzugleichen.  Dies wäre ein normaler Vorgang. Mehrere kritische Anmerkungen zur sozialistischen Demokratie sind aber nachzuschieben...



(wird fortgesetzt)

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