Barbarei oder Sozialismus, Teil 2

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An die Wurzeln gehen

Veränderungen im Kapitalismus und Handlungsoptionen der Linken. Teil II (und Schluß): Machtverhältnisse und Gegenwehr

Von Ekkehard Lieberam
Geballte Staatsmacht gegen gesellschaftliche Alternativen: Poliz
Geballte Staatsmacht gegen gesellschaftliche Alternativen: Polizeiaufmarsch bei G-8-Protesten in Heiligendamm
Dem veränderten »Entwicklungsgang« des Kapitalismus entspricht ein Funktionswandel des bürgerlichen Staates weg vom Sozialstaat, hin zum Machtstaat, der sich bereits in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts abzeichnete und dann nach 1989/1991 noch deutlicher hervortrat. Soziale Rechte werden reduziert, sozialstaatliche Institutionen umgebaut, autoritäre Strukturen gestärkt. Gestritten wird darüber, ob der Nationalstaat als wichtigstes Instrument der kapitalistischen Klassenherrschaft abdankt bzw. als Feld der Klassenauseinandersetzung an Bedeutung verliert. »Die neuen Formen der Macht führen weltweit zu Krisen der Nationalstaaten« heißt es im Programmentwurf der Partei der Europäischen Linken. Die DKP schätzt in ihrem Programm ein, die Ursachen dafür, »daß die Spielräume für soziale und demokratische Reformen (…) heute außerordentlich eng geworden sind«, lägen am Wegfall des »Reformdrucks mit dem Ende des Realsozialismus« und an den »weltwirtschaftlichen Verflechtungen und der Macht der transnationalen Konzerne«.

Veränderungen des Nationalstaates zeichnen sich ab: hinsichtlich seiner ökonomischen Rolle, seiner sozialen Tätigkeit und seiner Rolle im System supranationaler Organisationen und Beziehungen. Am offensichtlichsten, auch in der Bundesrepublik, ist der sukzessive Rückzug des Staates aus der sozialen Verantwortung und die Modifizierung seiner ökonomischen Funktionen. Der sozialstaatliche asymmetrische Klassenkompromiß wird zwecks Verbesserung der Kapitalverwertungsbedingungen und der Senkung des Preises der Ware Arbeitskraft abgebaut. Soziale Zuwendungen an wachsende Gruppen von Arbeitslosen hält man so gering, daß diese gezwungen werden, selbst die mieseste Arbeit bis hin zur Zwangsarbeit der Ein-Euro-Jobs anzunehmen.

Als Institution mit dem Monopol der Gewaltanwendung und der Rechtssetzung mutiert der Staat zum Überwachungsstaat, baut Polizei und Geheimdienste aus, bereitet die Legalisierung von Einsätzen der Armee im Innern vor und sorgt mit einer über Jahrzehnte hinweg so nicht gewohnten Konsequenz dafür, daß aus dem »Wollen der gesellschaftlichen Verhältnisse« (Karl Marx) Rechtsnormen werden. Als ideologischer Apparat und als politische Form zur Beschaffung von Massenloyalität, zur Regulierung sozialer Konflikte ist er weitgehend funktionstüchtig. Als »Unternehmer« zieht sich der Staat zurück. Er überläßt dem nach profitablen Anlagemöglichkeiten suchenden eigenen und internationalen Kapital die ehedem ihm gehörenden Unternehmen und Bereiche der Daseinsvorsorge. Als Bankier gibt er Funktionen an die europäische Zentralbank ab. Er dereguliert nationalstaatliche Beschränkungen des internationalen Kapitalverkehrs, von Export und Import. Er kürzt ganz erheblich die ABM-Maßnahmen, reduziert die Steuerbelastungen der Unternehmer, vergibt weiterhin Subventionen an die großen Konzerne und bietet den internationalen Konzernen und selbst den auch offiziell als »Heuschrecken« gescholtenen Private-Equity-Fonds ausgezeichnete Anlagemöglichkeiten, unterstützt nach außen und im Innern ganz entschieden die Exportindustrie im »Kampf um den Weltmarkt«.

Der Nationalstaat Bundesrepublik ist Akteur im Prozeß der kapitalistischen Globalisierung, und er ist nach wie vor die zentrale Institu­tion zur politischen Regulierung von Ökonomie und Klassenbeziehungen im Innern. Es bereitet aber Schwierigkeiten, aus der Sicht der kapitalistischen Globalisierung und der Herausbildung internationaler Herrschaftsinstitutionen seine zukünftige politische Gestaltungskraft in Geschichte und Politik zu bestimmen (und damit auch die Möglichkeiten linker Politik, den neoliberalen Umbau des Staates nicht nur zu stoppen, sondern auch gegebenenfalls in Richtung sozialer Verbesserungen umzukehren).
Kampffeld Nationalstaat
Es geht zunächst um drei Entwicklungstrends, die auseinandergehalten werden müssen, aber auch je nach Sachlage mehr oder weniger miteinander zu tun haben. Erstens gibt es Entwicklungen hinsichtlich der Internationalisierung des Kapitals, die darauf abzielen, nationalstaatliche Schranken der Kapitalverwertung wegzuräumen. Das ist so, aber auch relevante Gegentendenzen sind nicht zu übersehen. Zweitens ist die Frage zu beantworten, ob sich eine »weltweite Hegemonie des transnationalen Finanzkapitals« gegenüber »den Staaten« durchsetzen wird?1 Eine solche Hegemonie ist insbesondere im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik derzeit nicht zu bezweifeln, aber auch dort nicht irreversibel. Drittens ist die Frage berechtigt, inwieweit europäische und internationale Herrschaftsinstitutionen oder -allianzen progressive Gestaltungsmöglichkeiten in den Nationalstaaten (der Entwicklungsländer wie auch der Großmächte) blockieren werden? Das wäre keineswegs neu, hinge aber jeweils, wie bisher, vor allem von den inneren Kräfteverhältnissen ab.

Zweifelsohne ist der Einfluß der abhängig arbeitenden Klasse auf die Staatspolitik schwächer geworden, aber die entscheidende Ursache dafür sind eben nicht die Entwicklungstrends hinsichtlich der Internationalisierung des Kapitals. Die bürgerliche politische Propaganda versteht es zwar, den Menschen einzureden, die »neuen Unsicherheiten im Arbeitsleben« seien »zum großen Teil notwendig, damit das Land als Ganzes im internationalen Wettbewerb bestehen kann«,2 aber diese Propaganda hat nur insofern etwas mit der Wirklichkeit zu tun, als sie die derzeitigen Klassenmachtverhältnisse und die Nutzung der Globalisierung als Drohkulisse des Kapitals zum Ausdruck bringt: gegen »Sozialneid«, Lohnforderungen und allen möglichen »Sozialklimbim«. Schon immer war es so: »Das Kapital geht dem Profit nach, und wo es ihn kriegt, da nimmt es ihn, ob innerhalb oder außerhalb des Vaterlandes ist ihm absolut gleichgültig.«3 Die sich seit Jahrhunderten vollziehende Internationalisierung des Kapitals hat auch in jüngster Zeit nichts Grundlegendes an der Rolle des Nationalstaates als wichtigster Herrschaftsinstitution des Kapitals und als wichtigstem Feld der Klassenauseinandersetzung geändert und wird dies auch im neuen Jahrhundert nicht tun. Es entstanden europäische und internationale Institutionen, die optimale Bedingungen für die Verwertung des Kapitals auf EU-Ebene und global gewährleisten sollen und die zweifelsohne auch übernationale Herrschaftsinstitutionen sind, die die Hegemonie des Neoliberalismus weltweit zu sichern suchen. Zugleich jedoch existieren die Nationalstaaten als regionale Einheiten mit Territorien, Staatsvolk und als Herrschaftsverbände nationaler Finanz­oligarchien und Kapitalistenklassen mit eigenen »nationalstaatlichen Interessen« weiter. Die transnationalen Konzerne selbst sind allesamt an Staaten gebunden. Im Rahmen der EU hat sich ein gemeinsamer, eng miteinander verflochtener politischer Machtmechanismus aus Mitgliedsstaaten und EU-Institutionen entwickelt. Aber auch hier zeichnet sich kein Ende der Nationalstaaten ab. Vor allem aber spricht nichts für eine nunmehr gegebene politische Ohnmacht der abhängig Arbeitenden in den Nationalstaaten, dafür, daß nationale Kämpfe um die Nutzung der relativen Selbständigkeit des Staates für soziale und politische Verbesserungen etwa chancenlos geworden sind.

Es ist in einem außerordentlich hohen Maße so, daß derzeit die Nationalstaaten für die transnationalen Konzerne nur noch »die Rolle des Boxenstopps bei Autorennen (spielen)«4 und die »internationalen Finanzmärkte (…) die nationale Wirtschaftspolitik (diktieren)«.5 Aber die Gründe dafür liegen in den nationalen und internationalen Herrschaftskonstellationen, die weitgehend vom Kapital bestimmt werden und in der Annäherung der innenpolitischen Verhältnisse an die Propagandaformel vom »Wettbewerbsstaat« deutlich werden. Nur wenn in den Nationalstaaten (vor allem in den kapitalistischen Industrieländern) im 21. Jahrhundert erfolgreich andere Klassenmachtverhältnisse erkämpft werden, wird auch die weltweite neoliberale Kapitaloffensive aufgehalten werden können. Angesichts der verstärkten Europäisierung und Internationalisierung politischer Macht verlangt dies allerdings auch nach einer anderen Qualität der europäischen und internationalen Vernetzung des Kampfes der Gewerkschaften, linker Parteien, sozialer und antimilitaristischer Bewegungen.
Abschied von Illusionen
Außerparlamentarische Abwehrkämpfe organisieren: VW-Arbeiter im
Außerparlamentarische Abwehrkämpfe organisieren: VW-Arbeiter im Warnstreik (1. November 2004)
»Es ist die strategische Kernaufgabe der Linken«, so heißt es in den »Programmatischen Eckpunkten« der Partei Die Linke, »zur Veränderung der Kräfteverhältnisse als Voraussetzung für einen Richtungswechsel beizutragen.« Wenn unter »strategisch« eine grundlegende, sich über eine längere Zeit erstreckende und zu verfolgende Aufgabe verstanden wird, ist dies sicherlich die richtige Ausgangsposition, von der aus die Debatte um eine taugliche politische Handlungsorientierung im Kampf gegen den entfesselten Kapitalismus geführt werden kann. Nichts begründet allerdings den im Zusammenhang damit bekundeten Optimismus der Programmatischen Eckpunkte wie auch von Politikern der Linkspartei, angesichts von Streiks, Demonstrationen und linken Wahlerfolgen deute sich bereits heute das Ende des »neoliberalen Zeitgeistes« und dieser Kräfteverhältnisse an. Das ist eine krasse Unterschätzung der Schwierigkeiten, die zu bewältigen sind, um dem Neoliberalismus wirklich eine Niederlage zu bereiten.

In der programmatischen Debatte stehen sich hier hinsichtlich der Bewertung der Machtverhältnisse und des Kapitalismus zwei konträre Positionen gegenüber. Die Marxschen Erkenntnisse über die Akkumulation des Kapitals und die in der PDS-Programmatik bereits in den neunziger Jahren dominierende Position vom Kapitalismus als einer »kapitaldominierten Gesellschaft«, in den »Eckpunkten« als »Vorherrschaft der Kapitalverwertung über Wirtschaft und Gesellschaft« benannt, unterscheiden sich grundlegend. Über die Wirklichkeit oder Unwirklichkeit einer Theorie entscheidet bekanntlich nicht die Theorie, sondern die Praxis. Diese hat bereits im Übergang zum 21. Jahrhundert deutlich gemacht: Es geht erstens nicht um einen »Zeitgeist«, mit dem wir es zu tun haben, sondern um eine offenbar lange anhaltende, durch die Klassenmachtverhältnisse bedingte rigorose Kapitaloffensive. Der heutige Kapitalismus entspricht zweitens im besonderen Maße dem, was Marx im 23. Kapitel des ersten Bandes des »Kapitals« schreibt: »Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist (...) zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol.« (MEW 23, 675) Soziale Polarisierung und Verunsicherung der Arbeits- und Lebensverhältnisse sind das Ergebnis der kapitalistischen Plusmacherei, der Verwertung des Kapitals in nunmehr fast allen Bereichen der Gesellschaft, des ständigen Drucks auf den Preis der Ware Arbeitskraft. Es ist zwar »für den gesunden Menschenverstand« im höchsten Grade widersinnig, aber nach der Kapitallogik gilt zwangsläufig: »je höher die Produktivkraft der Arbeit, desto größer der Druck der Arbeiter auf ihre Beschäftigungsmittel, desto prekärer also ihre Existenzbedingung.« (a. a. O., S. 674)

Die Umdeutung der kapitalistischen Gesellschaft in eine »kapitaldominierte Gesellschaft« dagegen geht einher mit der Leugnung des von Marx entdeckten Gesetzes der kapitalistischen Akkumulation und dem Versprechen der »Durchsetzung eines allgemeinen Gesetzes einer nichtkapitalistischen Akkumulation«. Dies soll mittels Politik möglich sein, wenn und inwieweit gleiche Teilhabe an allen »Freiheitsgütern« erreicht wird und es gelingt, gegenüber der Profitdominanz die »Dominanz einer ›Soziallogik‹« zu erreichen und so »die Dominanz des kapitalistischen Eigentums auf(zu)heben«.6 Ein solches Konzept ist im hohen Maße brauchbar, um Illusionen hinsichtlich der gesellschaftlichen Zustände und ihrer Veränderbarkeit im Kapitalismus zu bedienen. Es führt auch ein beachtliches virtuelles Eigenleben – in den Kampagnen gegen die kapitalistischen »Heuschrecken«, gegen die Gehälter der Supermanager, in Regierungsreden zur sozialen Gerechtigkeit –, aber mit der rauhen Realität des Kapitalismus hat es nichts zu tun.
Schwäche der Linken
Die im Zusammenhang mit dem Modus der Kapitalakkumulation von Karl Marx gegebene Prognose einer »Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse« (a.a.O., S.791) hat sich aus sehr unterschiedlichen Gründen, denen hier nicht nachgegangen werden kann, so nicht erfüllt. Es gibt spontane Proteste, beachtenswerte außerparlamentarische Initiativen gerade auch der Linkspartei zur Verteidigung öffentlicher Unternehmen und Einrichtungen gegen Privatisierung, von einer kraftvollen organisierten und vereinten Gegenwehr oder Gegenmacht kann in der Bundesrepublik jedoch keine Rede sein. Hin und wieder protestieren Zehn- oder auch Hunderttausende, Millionen bleiben zu Hause. Ungeachtet der sinkenden Reallöhne sind die Streikaktivitäten sehr bescheiden und erreichten in den Jahren 2006 und 2007 gerade einmal wieder das Niveau von 1993. Der Medieneinfluß der Linken mißt sich prozentual irgendwo nach einer Null vor dem Komma. Die Gewerkschaften verlieren beträchtlich an Mitgliedern und sind trotz neuer Momente von Kampfbereitschaft, wie sie insbesondere im Streik der GDL sichtbar wurden, insgesamt noch in der Defensive. Der Erfolg der Partei Die Linke bei Wahlen und in Meinungsumfragen ist augenscheinlich Resultat einer konsequenten Opposition besonders ihrer Bundestagsfraktion gegen Neoliberalismus und völkerrechtswidrige Kriege. Ob dies der Ansatz für eine Veränderung der Klassenmachtverhältnisse werden kann, wird davon abhängen, inwieweit die Zustimmung eines beachtlichen Teils der abhängig Arbeitenden und sozial Ausgegrenzten für die Linkspartei von ihr für eine verstärkte außerparlamentarische Massenmobilisierung genutzt werden kann. Vorstellungen, dem Profitstreben mittels »Soziallogik« etwa in Koalitionsvereinbarungen beizukommen, liegen nicht auf dieser Linie. Daß die Erfolge an den Futterkrippen der Regierungsmacht verspielt werden können, ist nicht zuletzt unter Berücksichtigung der Erfahrungen in Berlin nicht unwahrscheinlich.

Diejenigen, die gerade angesichts der im 21. Jahrhundert anstehenden Alternative Sozialismus oder Barbarei für die sozialistische Alternative eintreten, haben politisch eine schwierige Ausgangsposition im bevorstehenden Stellungs- und Bewegungskrieg zwischen Kapital und Arbeit, dessen Verlauf darüber entscheiden wird, ob gegen die Kapitallogik und gegen mächtige Institutionen, Verbände und Korporationen des Kapitals menschliche Verhältnisse erkämpft werden können. Umso unmißverständlicher müssen vorhandene Illusionen als solche benannt und taugliche Positionen hinsichtlich einer auf dieses Ziel gerichteten politischen Handlungsorientierung dargelegt werden.

Erstens ist ein Macht- und Politikverständnis erforderlich, daß sich sowohl der Misere der gegenwärtigen Herrschaftskonstellation als auch der gangbaren Wege, der Ansätze und vielfältigen Irrwege einer Veränderung der Klassenmachtverhältnisse bewußt ist.

Linke Programme, die Parteien den Titel des »politischen Subjekts« gegen »Neoliberalismus und für soziale Veränderungen« verleihen oder angesichts der Machtverhältnisse dennoch optimistische Prognosen über eine politische Gestaltung von links hier und heute »in Regierungsverantwortung« abgeben,7 sind nur mit Mühe ernst zu nehmen. Marxisten, unabhängig in welchen Organisationszusammenhängen sie auch wirken, müssen sich demgegenüber – in zeitgemäßer Weise – der schon zum Ausgang des 19.Jahrhunderts formulierten Aufgabe stellen, den »Kampf der Arbeiterklasse zu einem bewußten zu gestalten und ihm sein naturnotwendiges Ziel zu weisen«.8 Spontane Aktionen der abhängig arbeitenden Klasse gegen das Kapital sind eminent wichtig. Aber ohne organisierende und anleitende Kraft bzw. Kräfte werden diese Aktionen nicht zu einer Veränderung der Machtverhältnisse führen. Illusionär ist die Vorstellung, das Parlament sei die Zentralachse der Politik. Einflußnahme »auf den Staat« ist nicht eine Willensfrage »standhafter« linker Regierungspolitiker. Sie wird es nur geben, wenn sich in der Gesellschaft selbst Veto- und Gegenmacht gerade auch als einflußreiche außerparlamentarische Bewegung entwickelt. Im 21. Jahrhundert wird ebenfalls gelten: »Das Häuflein Deputierter ist eine Macht durch die realen außerparlamentarischen Kräfte, die es repräsentiert.«9

Zweitens geht es um entschiedene Gegenwehr gegen die neoliberale Kapitaloffensive und die Kriegsführungspolitik und um ein Aktionsprogramm mit politischen und sozialen Forderungen, die die verschiedenen Fraktionen und Gruppen der abhängig arbeitenden Klasse, der sozial Ausgegrenzten, der von der kapitalistischen Barbarei Betroffenen zusammenbringen.

»Unter den gegenwärtigen Bedingungen werden Abwehrkämpfe im Zentrum einer ganzen Kampfetappe stehen.« Ohne »Widerstandskampf bleiben alle Reformvorstellungen reine Illusion. Deshalb muß mit den Ansätzen von Widerstand die Perspektive von Veränderungen und Reformen verknüpft werden.«10 Im Widerstandskampf gegen den Neoliberalismus – national, europaweit und international – wird sich entscheiden, ob die Voraussetzungen geschaffen werden können, die Hegemonie des Kapitals in Politik und Gesellschaft ernsthaft zurückzudrängen: eine breite antineoliberale Sammlungsbewegung, Bereitschaft zur Verteidigung der demokratischen und sozialen Rechte, politisch-organisatorische und geistig-kulturelle Gegenmacht, eine Revitalisierung von Klassenbewußtsein und Klassenhandeln. Das Schicksal der neuen Linkspartei und aller Linken wird davon abhängen, inwieweit sie die politischen Hausaufgaben im Kampf gegen Privatisierung, Sozialraub, Stellenkürzungen und Militarisierung der Außenpolitik machen. Eine »Realpolitik«, die darin ihren Sinn sieht, in den Parlamenten und in Regierungskoalitionen Kompromisse mit den Herrschenden auszuhandeln, wird unweigerlich scheitern, weil sie die Realitäten der Klassenmachtverhältnisse nicht zu verändern vermag, sondern konserviert, weil sie demzufolge die Hegemonie des Kapitals nicht schwächt, sondern mittels der Transformation von Widerstand in Zustimmung geradezu stärkt. Hegemonie kann letztlich nur errungen werden, wenn die abhängig arbeitende Klasse und die sozial Ausgegrenzten selbst die politische Bühne vernehmlich betreten, mit einem Programm, das den Abwehrkampf mit dem Kampf um soziale und politische Verbesserungen (wie Verteilung des Reichtums von oben nach unten, Kürzung der Arbeitszeit, obligatorische Mindestlöhne und ausreichende soziale Grundsicherung) mit einem Grundwissen um die gesellschaftlichen Zusammenhänge im Kapitalismus verbindet: zwischen Profitmaximierung und Armut, zwischen Kapitalinteressen und Staatspolitik.

Drittens ist zu beachten, daß linke Politik und Programmatik nur dann eine Perspektive haben kann, wenn sie nicht nur die Folgen, sondern »die Wurzeln der kapitalistischen Gesellschaftsordnung« bekämpft11 und sich der Dialektik von Macht- und Eigentumsfrage bewußt ist.

Eine Strategie gesellschaftlicher Veränderungen von links hat die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse selbst in Frage zu stellen, hat einen »Weg« zu weisen, »der die kapitalistischen Fundamente sprengt und so die Tür für eine sozialistische Zukunft öffnet«.12 Nicht irgendwann in einer »Periode des revolutionären Kampfes«, sondern bereits heute im Aktionsprogramm muß deutlich werden, daß es »der Linken« um einen Übergang zu einer anderen Gesellschaftsordnung geht, deren Markenzeichen Gemeinwirtschaft und entschieden mehr Demokratie sind. Aufrufe nach der »Überwindung des Kapitalismus«13 (noch dazu im Sinne der Theorie der »kapitaldominierten Gesellschaft«) sind Sprechblasen, wenn sie nicht durch Forderungen ergänzt werden, Banken sowie Versicherungs- und Rüstungskonzerne und alle produktions- und marktbeherrschenden Unternehmen in demokratisch kontrolliertes gesellschaftliches Eigentum zu überführen. Radikal-demokratische Reformen verlangen eine Situation sich verändernder Machtverhältnisse. Kein »Demokratismus« wird »den Sozialismus bringen«, schrieb im Jahre 17 des letzten »kurzen Jahrhunderts« ein politisch sehr erfolgreicher Marxist, »aber im Leben wird der Demokratismus nie ›für sich genommen‹, sondern er wird mit anderen Erscheinungen zusammengenommen, er wird seinen Einfluß auch auf die Ökonomik ausüben, ihre Umgestaltung fördern, dem Einfluß der ökonomischen Entwicklung unterliegen usw. Das ist die Dialektik der lebendigen Geschichte.«14

1 Leo Mayer, »Wo geht's denn hier zu Veränderungen«, in: Marxistische Blätter, 5/2007, S. 55

2 »Der große Graben«, in: Der Spiegel v. 15.12.2007, S. 36

3 Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Bd. IV, Berlin/DDR 1961, S. 156

4 So der Fiat-Chef Luca di Montezemolo, zit. nach: W. Müller, »Job-Export«, in: ISW-Report Nr. 68, S. 3

5 Programm der DKP (April 2006), S. 9

6 Michael Brie, Welcher Marxismus und welche Politik?, in: Utopie kreativ, H. 165 (Juli/August 2004), S. 654

7 Programm der Partei der Europäischen Linken, Gemeinsamer Entwurf der Initiativgruppe zur Gründung der Partei der Europäischen Linken, 3. April 2004, S. 4. In der Gründungserklärung der Partei Die Linke. Sachsen vom 8. Juni 2007 heißt es auf S. 3: »Sachsen braucht einen Politikwechsel und Die Linke ist die einzige Partei, die einen solchen Politikwechsel (gegen ›konservative und neoliberale Politik‹) herbeiführen kann.«

8 Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen auf dem Parteitag in Erfurt 1891, in: Programmatische Dokumente der Deutschen Sozialdemokratie, Bonn 1990, S. 187

9 Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Bd. VI, Berlin/DDR 1964, S. 407

10 Programm der DKP, a. a. O., S. 22 und 9

11 Leo Mayer, a. a. O., S. 57

12 Ingo Wagner, »Das Übergangsprogramm heute«, in: Marxistisches Forum, Heft 53, Januar 2007, S. 10

13 Programm der Partei des Demokratischen Sozialismus, Beschluß der 2. Tagung des 8. Parteitages der PDS am 25./26. Oktober 2003 in Chemnitz, S. 22

14 Wladimir Iljitsch Lenin, Staat und Revolution, LW, Band 25, Berlin/DDR 1981, S. 466

* Prof. Dr. Lieberam ist Rechts- und Politikwissenschaftler sowie Sprecher des Marxistischen Forums Sachsen in und bei der Partei Die Linke

Vorabdruck aus Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Heft Nr. 73 (»Kapitalismus im 21. Jahrhundert«, erscheint Anfang März), Bestellungen an: redaktion@zme-net.de, Einzelpreis 10 Euro.

(Teil I erschien in der Wochenendausgabe)


Tageszeitung junge Welt, 18.02.2008 / Thema / Seite 10

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