Woran ein "Verfassungsschutz" arbeiten sollte - Frank Bsirske auf der richtigen Seite ...

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Natürlich hat das in der "junge Welt" gestern vorgestellte Buch einen grundsätzlichen Mangel - es verschweigt, dass letztlich nicht der aktuelle Kapitalismus durch einen Kapitalismus mit Mindestlohn sondern eine alternative Wirtschaftsordnung namens Sozialismus ersetzt werden müsste - aber es greift schon besonders schmerzhafte Bereiche auf. (Wobei die hier herausgegriffenen 7,67 Euro Stundenlohn ja nicht das böse Ende der Fahnenstange nach unten sind.) Aber das wäre von einem Grünen wohl zu viel verlangt. Immerhin ist die Kombination von zwei Übeln, wie sie Wallraff vornimmt, ein Schritt in die richtige Richtung. Wobei ... richtig mutig wäre natürlich gewesen, noch nachzuhaken und zu sagen, dass einen solchen Vorwurf die Staatssicherheit der DDR nicht erleiden musste: Um die Würde eines menschlichen Lebens ohne Armut hatte sich der DDR-Staat gekümmert ...

 

Klassen und Kasten

Ein Buch mit einem Plädoyer für die Einführung von Mindestlöhnen

Von Peter Wolter
Daß Deutschland eine Klassengesellschaft ist, ist eine Binsenweisheit – abgestritten nur von denjenigen, die sich zur »Elite«, zur »Creme«, zu den »Leistungsträgern« zählen. Der Kölner Publizist Günter Wallraff geht weiter: Die Bundesrepublik entwickelt sich zu einer Kastengesellschaft. Die Angehörigen der Oberschicht verkehren »nur noch untereinander, heiraten untereinander, pflegen ihre eigenen Clubs und Rituale und blicken auf die anderen … mit distanziert kaltem Blick herab«.

Belegt wird diese These in dem jetzt erschienenen Buch »Leben ohne Mindestlohn – Arm wegen Arbeit«, das Wallraff zusammen mit den Gewerkschaftsvorsitzenden Frank Bsirske (ver.di) und Franz-Josef Möllenberg (Nahrung-Genuß-Gaststätten, NGG) herausgegeben hat. Auf 176 Seiten schildern Betroffene ihre Erfahrungen mit der Arbeitswelt: eine Leiharbeiterin, eine Produktionshelferin, eine Kassiererin, ein Koch u.a. So unterschiedlich ihre Lebensumstände auch sind – sie haben eines gemeinsam: Sie arbeiten in prekären Jobs, können vom Verdienst kaum leben und sind ständig vom Rausschmiß bedroht. Die Pflegefachkraft Almut Feuerbach (36) etwa verdient gerade mal 7,67 Euro pro Stunde. Da sie drei Kinder zu betreuen hat, kann sie nur 20 Stunden pro Woche arbeiten, so daß sie im Monat auf maximal 780 Euro kommt. Seit acht Jahren hat die Familie keinen Urlaub gehabt.
Lohndumping
»Der Niedriglohnsektor hat zuallererst ein Geschlecht«, resümierte Bsirske in Berlin bei der Buchvorstellung: »Er ist überwiegend weiblich.« Besonders betroffen seien außerdem Ausländer und junge Menschen unter 25 Jahren, von denen mittlerweile fast die Hälfte im Niedriglohnbereich arbeite. Es seien keineswegs nur Unqualifizierte: »Im Gegenteil, mehr als zwei Drittel haben eine Berufsausbildung, acht Prozent haben sogar einen Fachhochschul- oder Hochschulabschluß.«

Üblich ist das Lohndumping laut Bsirske vor allem bei Haushaltsdienstleistungen, im Gastgewerbe, in der Land- und Forstwirtschaft, im Handel sowie im Gesundheits- und Sozialwesen. Nach amtlichen Zahlen gebe es bundesweit 1,4 Millionen »Aufstocker«, die auf staatliche Zuwendungen angewiesen sind, weil ihr Lohn nicht zum Leben reicht. Laut Bundesagentur für Arbeit seien dafür 2009 elf Millarden Euro ausgegeben worden. Allerdings gebe es eine enorme Dunkelziffer, sagte Bsirske: »Das sind Menschen, die aus Scham oder Unkenntnis ergänzende Hartz-IV-Leistungen nicht in Anspruch nehmen.«

Möllenberg beklagte bei der Präsentation, daß die deutschen Billiglöhne immer mehr Arbeitsplätze auch in den Nachbarländern bedrohen, was zu schweren Vorwürfen der europäischen Schwestergewerkschaften führe. Wallraff erinnerte an den Artikel eins des Grundgesetzes: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Billiglöhne, von denen man trotz einer vollen Arbeitsstelle nicht leben könne, seien damit nicht vereinbar. »Eigentlich wäre hier derVerfassungsschutz gefordert«, sagte der Autor. Zumindest sollten verdeckte Ermittler eingesetzt werden. Besonders skandalös sei, daß bei Razzien der Bundesagentur meist die Leidtragenden abgeschoben würden – die Nutznießer kämen relativ ungeschoren davon.
Billiglohnprofiteure
Laut Statistik, so schreibt Wallraff im Vorwort, ist die Lebenserwartung der Menschen, die weniger als 1000 Euro verdienen, um zehn Jahre geringer als die derjenigen, die 3000 Euro und mehr haben. »Diese Schieflage ruiniert die Gesellschaft … Der gewerkschaftlich geforderte Mindestlohn ist meiner Meinung nach das Allermindeste, um ohne staatliche Unterstützung über die Runden zu kommen. Trotzdem jault ein erheblicher Teil der Billig­lohnprofiteure auf, als hätten sie eins mit der Schaufel übergekriegt.« Die von den Gewerkschaften geforderten 8,50 Euro pro Stunde Mindestlohn seien aber »wirklich schon fast peinlich. »Die französische Arbeiterbewegung hat einen Mindestlohn von neun Euro erkämpft, in Luxemburg werden zehn Euro gezahlt. Geht doch!«

Der Sammelband ist ein Plädoyer für die Einführung von Mindestlöhnen, eine Forderung, die in voller Konsequenz vor allem von Gewerkschaften und der Linkspartei vertreten wird. Auch Sozialdemokraten sind dafür, wenn auch mit den SPD-üblichen Verwässerungen, Halbheiten und der ständigen Bereitschaft zu faulen Kompromissen. Das Buch erschien zur vollen sogenannten Arbeitnehmerfreizügigkeit, die in Deutschland seit dem 1. Mai gilt und die Tür für Migranten aus den EU-Staaten Osteuropas öffnet.

Günter Wallraff/Frank Bsirske/Franz-Josef Möllenberg (Hg.): Leben ohne Mindestlohn; Arm wegen Arbeit - Niedriglöhner, Leiharbeiter und »Aufstocker« erzählen. VSA-Verlag, Hamburg 2011, 176 Seiten, 12,80 Euro

Veröffentlicht in politische Literatur

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