Die Zukunft denken (3)
Zu Beginn der 9. Klasse setzte sich bevorzugt unter den Jungen eine starke politische Renitenz durch. Wir mussten einfach die einfachen Antworten, die uns die Lehrbücher vorsetzten, noch einmal „hinterfragen“. Das war ein Gemisch an Geistessport und bewusster Opposition. Ich las zum Beispiel erst alles durch … und dann suchte der Zweifel sein Ventil. Zum Glück enthielt das Buch primitiv interpretierte, aber original zitierte „Klassiker“, Marx, Engels, Lenin … Es gehörte eigentlich kein weltbewegendes Studium dazu, um festzustellen, dass die Schlussfolgerungen, die die brav angepassten DDR-Apologeten – also eben die Lehrbuchschreiber – im eigentlichen Text für die Qualität unserer „klassischen“ Wirklichkeit zogen, nicht ganz das waren, was die in Kästchen zitierten Vordenker gewollt hatten.
Ergebnis: Bevor die eigentliche Plan-Unterrichtsstunde begann, war oft schon ein störender Finger zur Frage erhoben – und wurde mit Begeisterung von den Mitschülern angefeuert: ein Teil, weil sie hier kritisch gefordert waren, ein anderer (leider größerer) Teil in der blanken Erwartung, dass wieder eine Stunde garantiert nicht zu ihrem langweiligen Bla-Bla-Ergebnis (sondern aus ihrer Sicht zu gar keinem) führen würde.
Meine Lehrerin nahm uns wirklich ernst, ging zu Lasten des Lehrplans auf unsere Abwege ein und machte somit einen Unterricht, wie er in diesem Fach eigentlich hätte sein sollen. (Sie beschwerte sich nur wiederholt über die unzureichende Beteiligung der Mädchen an dieser lebendigen Politikdiskussion.)
In diesen Stunden lernte ich auch gleich einen bestimmten Typ Schüler kennen. Natürlich fand sich einer, der vorausschauend nach den Rechtfertigungen der Meinung suchte, die er von der Lehrerin als erwünschtes Ziel der Diskussion erwartete. Eine begrenzte Intelligenz war ihm dabei nicht abzusprechen. Es war sicher kein Zufall, dass er mit diesem Auftreten begann, als er seinen Berufswunsch gefunden hatte: Er wollte zu den „bewaffneten Organen“, was wahrscheinlich für ihn Offizier (der Stasi) bedeutete. In vorauseilendem Gehorsam suchte er also nach Antworten, die seine Loyalität belegten.