Brauchen wir noch geistige Führer? A3

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(Fortsetzung von gestern)

II. Platon kann der Stammvater des intellektuellen Antiintellektualismus genannt werden. Den Namen der Protagonisten der klassischen griechischen Aufklärung, Sophisten, hat er zum Schimpfwort gemacht. In seiner normativen Staats- und Gesellschaftslehre verdammt er das über die Grenzen der je eigenen Stellung im System der Arbeitsteilung aus- und in allgemeine Belange eingreifende Denken und Handeln unter den Namen »polypragmosyne« und »allotriopragmosyne« (Politeia, 444b) – Schleiermacher übersetzt mit »Vieltuerei« bzw. »Fremdtuerei«. Die Viel- und Fremdtuer verstoßen gegen die herrschaftliche Ordnung, die sich als eine von Zuständigkeiten (Kompetenzen) und Unzuständigkeiten (Inkompetenzen), hierarchischen Befugnissen über einer Masse von Unbefugten beschreiben läßt. Letztlich geht es darum, die Herrschaft den Herrschenden zu überlassen. Entsprechend ist Gerechtigkeit für Platon keine soziale, vom gleichen Recht aller Individuen auf Teilhabe an den gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten ausgehende Zielvorstellung, sondern nur ein anderer Name dafür, daß alle das ihrer Stellung Zukommende tun und sich in nichts einmischen, was sie nichts angeht. Auf dem Spiel steht der Vernunftgebrauch.

Emanzipatorische Bewegungen wie die Achtundsechziger und neuerdings die globalisierungskritische Bewegung durchbrechen diese Absperrungen. Sie setzen kritisch-intellektuelle Potenzen frei und machen ernst mit dem Anspruch der Zivilgesellschaft auf gesellschaftliche Selbstbestimmung. Umgekehrt setzen die Konservativen und Reaktionäre alles daran, diesen Anspruch zu delegitimieren und die Aus- und Aufgebrochenen wieder zu zerstreuen und einzuspannen. Die Konversion der Achtundsechziger bietet ein Beispiel, wie schließlich »mit der Themen- und Verfahrenspolitik der postmodernen Eingemeindungsstrategie in den späten 70er und 80er Jahren und ihrer ambivalenten Pflege der Diversity diese linken Vorstöße ins Private und neue Öffentliche konterkariert werden [konnten …]. Das war übrigens keine Sache einer neuen politischen Generation, sondern Resultat einer erfolgreichen Politik korrumpierender Renormalisierung […], die gleichsam ständige Aufnahmeprüfung der neuen, bereits uneinholbar zeitgewandten post-68er Kohorten in die Belohnungskultur einer bundesdeutschen herrschenden Klasse« (Rilling 2008, 199).

Anlässe zur intellektuellen Überschreitung nach links, ins soziale Engagement, gab es, während der zynisch resignierte Leichtsinn der Postmoderne den Zeitgeist prägte, mehr als genug. Doch die progressiven Intellektuellen, »Unglücksboten«, rückten, wie der Zapatistenführer Marcos bemerkt hat, ins Visier der »Panzerglastürme der Hegemonie des Geldes« als Objekte, die, wenn nicht zu kaufen, dann zu zerstören sind.1 Sie sind Unglücksboten, weil sie die konsumistische Euphorie stören und weil sie denen, die »keine Stimme haben«, den »Gesichtslosen«, a los sin cara y sin voz, Stimme und Gesicht leihen. Sie betreiben Auf-Klärung in dem Sinn, den Karel Kosík diesem Wort gegeben hat: Klärung, die ebenso aufrichtig wie aufrichtend von unten nach oben leuchtet. Verkünden dagegen Intellektuelle von oben herab das ›höhere‹ Wissen, fördern sie intellektuelle Subalternität und tragen so zur allgemeinen Subalternität bei. Ihre Intellektualismen beschaffen der hierarchischen Arbeitsteilung Kredit und legitimieren damit zugleich die strukturähnliche Beziehung zwischen regierenden Repräsentanten und Repräsentierten. Demokratische Intellektuelle werden gegen diesen Subalternitätseffekt unermüdlich anarbeiten. Man erkennt sie daran, daß sie Fähigkeiten weitergeben, hinter die Kulissen führen und sich selbst entbehrlich machen (was sie freilich kraft einer unentrinnbaren Dialektik erst recht unentbehrlich macht).

Vor einigen Jahren, als der kurze Sommer der New Economy zu Ende ging, gefolgt vom Krach auf Raten, hat der Chefökonom der Europäischen Zentralbank den epochal übergreifenden Anlaß zur intellektuellen Überschreitung nach links modo negativo benannt. Er rief nach verstärkten Anstrengungen zur Legitimation der Globalisierung angesichts wachsenden Widerstands. Bei diesem Widerstand handelt es sich nach seiner Einsicht um »einen endogenen, zwangsläufigen Vorgang«. Er entzündet sich an drastisch wachsender Ungleichheit: »In einem Umfeld großer Gewinne werden die Verlierer – im relativen wie im absoluten Sinne – die Einbußen um so schmerzlicher empfinden.« Intellektuelle sind in seiner Vorstellung interessanterweise immer kritisch. Daher kann er den kapitalistischen Block warnen: »Jetzt bietet sich für viele Intellektuelle eine neue willkommene Gelegenheit, die Kritik der Marktwirtschaft auf die sozusagen höhere Ebene der Weltperspektive zu transponieren.« Es kommt ihm nicht in den Sinn, daß sein Aufruf zu neuer ideologischer Anstrengung sich auch an Intellektuelle, eben an solche der herrschenden Mächte und Interessen, richtet. Diejenigen jedoch, die sich nicht mit dem Bankkonto, sondern mit Herz und Vernunft zu den gesellschaftlichen Lebensbedingungen verhalten, sollten sich das nicht zweimal sagen lassen. Denn das Umfeld großer Gewinne, in dem die Verlierer die Einbußen schmerzlich empfinden, hat im Moment der Weltfinanzkrise Dimensionen erreicht, die zum Himmel schreien. Doch der Himmel ist leer. Die Botschaft muß gesellschaftlich kommuniziert, theoretisch unterbaut und praktisch gewendet werden.

(wird fortgesetzt)

Veröffentlicht in Zukunft denken

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