Robert Steigerwald über revolutionäre Ungeduld und Anarchismus (2)

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Ich wähle einige zentrale der von Harich gewählten Themen aus, die auch einen Blick auf jene Elemente anarchistischer Art gestatten, die es in verschiedenen linken und linksradikalen Bewegungen, Organen, Organisationen in der Bundesrepublik gab und gibt. In diesem Zusammenhang untersuche ich auch das Verhalten von Kommunisten in unserem Land
Organisations- und Staatsprobleme
Harich geht in einem eigenen Kapitel auf die Institutions-Theorie Arnold Gehlens 1) und Adornos ein, in die eingefügt das Staatsproblem gehört. Mich hat das, als ich dies erstmals bei Harich las, recht beeindruckt, doch muss ich heute sagen, dass ich einen solchen Zusammenhang zwischen Anarchismus und Gehlen, also mitdem Konservatismus, wie ihn Harich annimmt, nicht sehe.
Das folgt schon daraus, dass der klassische Anarchismus der Untersuchung der realen Verhältnisse aus dem Weg geht, dass er nicht, wie der Marxismus Respekt vor der Realität hat. (Dies behandelt Harich im 4. Kapitel) und
folglich auch gar keine wirkliche Theorie des Staates besitzt. Eine Verwandtschaft der Positionen auf die Harich eingeht besteht im Ignorieren der gesellschaftlichen Bedingungen, denen Institutionen ihre Existenz verdanken. Das führt zu völlig abstrakten Einstellungen zu solchen Institutionen. Ob die Institution einer parlamentarischen Demokratie etwa
vor dem Ansturm des Faschismus zu verteidigen ist oder sie im Umwälzungsprozess vom Kapitalismus zum Sozialismus ein Hemmnis sein kann, das wird auf solcher abstrakter Grundlage nicht beurteilt und führt dann zu
bekannten ernsten politischen Fehlern. 
Organisation wird im Anarchismus verschmäht, weil sie „strukturell“ den herrschenden autoritären Mächten nachgebildet sei (S. 36). Man stelle sich vor, die revolutionären Arbeiter und Soldaten 1918/19 „bewaffnet“ mit einer
intakten revolutionäre Organisation! Was der dann mögliche Sieg der Revolution für weittragende Wirkungen ausgelöst hätte. Harich fragt, wie denn die Arbeiter und Bauern des Sowjetlandes sich ohne ihren Staat und seine Armee verteidigen hätten können (S. 37, 38). Wenn er auf Spanien 1936/38 zu sprechen kommt, hält er den Anarchisten vor, dass sie doch auch dort schließlich einsehen mussten, die Faschisten hatten ihnen dies eingebläut, dass der Freiheitskampf ohne eine intakte Regierung und ohne die Verwandlung von Milizen in eine revolutionäre Armee überhaupt nicht zu führen gewesen wäre: Anarchisten begingen das Verbrechen, in die Regierung einzutreten!
Harich konfrontiert die Organisationsfeindschaft des Anarchismus mit solchen „Kleinigkeiten“ wie Produktion in einem möglichen sozialistischen Gemeinwesen. Wie wollt Ihr das angehen ohne Beibehaltung von Organisation und Leitung? 
Ich füge zur Abwechslung etwas Gegenwärtiges ein: Eine junge, ausgezeichnete kanadische Reporterin – Naomi Klein heißt sie und einige ihrer Bücher sind mit Recht auf Bestseller-Listen gelangt - ist seit Jahren stets am Ort wichtigen antiglobalistischen Geschehens. In einem dieser Bücher schildert sie die einfallsreichen, fröhlichen, sympathischen Aktivitäten jugendlicher Streiter, imperialistische als Konferenzen ausgegebene Festfressen, wie ein solches etwa in Davos, zu stören, wenn möglich zu verhindern. Sie machten sich kundig über den Anfahrtsweg der Banker, Manager samt Begleiterinnen und setzten sich ganz einfach auf die Zufahrt-Straße. Warteten, warteten, doch auf die sie warteten, kamen nicht, sie hatten von der Sache Wind bekommen und einfach einen anderen Zufahrtsweg genutzt (notfalls hätten es auch Hubschrauber getan). Es zeigt sich, man hätte alle Zufahrtswege kennen und blockieren müssen. Dazu hätte man einen Plans gebraucht. Man hätte die Kräfte an die erforderlichen Stellen zur erforderlichen Zeit beordern müssen usw., usf. also eines durchaus organisatorischen und wenigstens während der Aktion anwesenden Führungskerns bedurft. Umso mehr ist so etwas nötig, wenn es nicht nur darum geht, eine Zufahrtstraße zu blockieren. Ohne eine Organisation und ohne zumindest zeitweilige Organisations- und Führungsstrukturen ist Großes – trotz Dutschke entgegenstehendes Duktum, darauf komme ich noch zu sprechen - nicht zu meistern. Dies ist aber nicht
nur ein kleines Beispiel, denn solche Wiederbelebung von Rezepten Herbert Marcuses ist Kernbestandteil des Buches von Hardt/Negri „Multitude“ aus dem Jahre 2004, dessen Thesen auch in linkssozialistische und sogar in
kommunistische Organen uns Organisationen Eingang gefunden haben.
In hohem Maße entlarvend ist das staatsfeindliche Gerede von Anarchisten, beachtet man, worauf Harich aufmerksam macht, dass alle damaligen bedeutenden Anarchisten ihre Staatsfeindschaft beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges vergaßen und sich wie der stinknormale Reformismus sich an die Seite ihres jeweiligen Staates, seiner Kriegspolitik stellten, dass z. B. Kropotkin noch für die Fortsetzung des Krieges durch die Provisorische Revolutionäre Russlands eingetreten ist.

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