Überm Tellerrand: Interview mit dem linken slowenischen Philosophen, Kulturkritiker undPychoanalytiker Slavoj Zizek über Karl Marx und Groucho Marx, die Krisedes Kapitalismus, ...

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... neue Formen des Proletariats, Autoritarismus und gesellschaftliche Alternativen

Manchen feiern ihn als "Elvis der Kulturtheorie", andere verteufeln ihn
als unbelehrbaren Kommunisten und Anhänger des republikanischen Terrors
in der französischen Revolution von 1789 bis 1794, der besser heute als
morgen einen neuen "Wohlfahrtsausschuss" gründen würde.
Dennoch arbeitet der vermeintliche "Popstar" und subversive "Terror-
Sympathisant" als Professor für Philosophie an der Universität
Ljubljana, der privaten European Graduate School im schweizerischen
Saas-Fee und als Gastdozent an diversen anderen Hochschulen.

Die Rede ist von Slavoj Zizek (60), der schon während des real
existierenden Sozialismus in Jugoslawien "Dissident" war und es zum
Leidwesen Mancher auch geblieben ist, denn Zizeks Veröffentlichungen
sorgen fast immer für Furore. Auf Deutsch sind unter anderem -
mittlerweile in 4.Auflage - "Ein Plädoyer für die Intoleranz"
(Passagen-Verlag, Wien), "Auf verlorenem Posten" (Suhrkamp 2009) und
"Der Mut, den ersten Stein zu werfen" (Turia + Kant, Wien 2008)
erschienen. Im September 2008 machte seine Totalitarismus-Debatte (
Video (1)) mit dem zum "NATO-Philosophen" mutierten Bernard-Henri Lévy
in der New York Public Library weltweit Schlagzeilen, aus der Zizek
nach Ansicht vieler Beobachter als klarer Sieger hervorging.

Telepolis sprach mit ihm über die tiefe Krise des Kapitalismus, über
neue Formen des Proletariats, die Ökologiefrage, das Risiko autoritärer
Regimes neuen Typs in Europa und mögliche Wege aus der Sackgasse.

Ich glaube, dass wir den Begriff "Proletariat" beibehalten sollten

Mitte Januar erschien bei Editions Flammarion in Paris Ihr neuestes
Buch. Der Titel lautet übersetzt "Nach der Tragödie, die Farce! - Oder
wie sich die Geschichte wiederholt". Eine Anspielung auf das berühmte
Marx-Zitat. Auf den 241 Seiten versuchen Sie eine umfassende und tief
gehende Analyse der aktuellen Tendenzen des bestehenden Systems. Eine
bedeutende Rolle spielt dabei der Gegensatz zwischen "Ausgeschlossenen
und Integrierten". Inwieweit hilft dieser bei der Bewertung der Dynamik
des globalen Kapitalismus?

Slavoj Zizek:
Dieser Antagonismus zwischen Ausgeschlossenen und Integrierten wird
nicht von vornherein über die Ausbeutung bestimmt. Selbstverständlich
gibt es immer Ausgebeutete. Im gegenwärtigen Kapitalismus bilden die
klassischen regulären Arbeiter allerdings nicht mehr die Mehrheit. Hier
ist eine andere Logik am Werk. Wir leben in Gesellschaften mit
permanenter Kontrolle, aber paradoxerweise zieht sich die Staatsmacht
mehr und mehr aus immer größeren Bereichen zurück und zwar dort, wo die
Leute nicht mehr als Staatsbürger betrachtet werden. Ich denke da
insbesondere an die Elendsviertel.

Abgesehen davon glaube ich, dass wir den Begriff "Proletariat"
beibehalten sollten. Im strikt marxistischen Sinne bezieht sich dieser
Begriff nicht nur auf die Ausbeutung. Marx ist hier Hegelianer. Er
entwickelt die Idee einer Subjektivität, die ihrer Substanz beraubt
ist. In diesem Sinne lassen sich neue Formen des Proletariats
ausmachen, die radikaler sind als die von Marx gedachten. Eine
bestimmte französische Tradition, die bei Louis Althusser (2) zum
Tragen kam, hat die Tendenz, den rein politischen Kampf zu bevorzugen.

Mein Freund Alain Badiou (3) steht in dieser Tradition. Er definiert
vier Domänen der Wahrheit: Kunst, Wissenschaft, Politik und Liebe.
Nicht allerdings die Wirtschaft, die seiner Ansicht nach vom 'Leben des
menschlichen Tieres' bestimmt wird. Ich teile diese These nicht. Im
Gegenteil, ich insistiere auf der Tatsache, dass die Ökonomie nach Marx
nichts anderes als die politische Ökonomie ist. Der ökonomische Kampf
ist - um es in Badious Worten auszudrücken - Teil des
'Wahrheitsprozesses'.

Von der Notwendigkeit, Aspekte des Kommunismus wiederzuentdecken

Ihrer Auffassung nach neigt der globale Kapitalismus dazu, seine
gegenwärtigen Widersprüche dadurch zu überwinden, dass er sich zu einem
"grünen Kapitalismus" mausert. Ist das kapitalistische System denn mit
der Ökologie vereinbar?

Slavoj Zizek:
Vergleichen wir mal die Reaktion der Großmächte weltweit auf die
Finanzkrise mit ihrem Verhalten auf dem Klimagipfel von Kopenhagen. Der
Finanzkrise räumten sie absoluten Dringlichkeitsstatus ein. Innerhalb
einer Woche wurden unvorstellbare Summen mobilisiert. Dort, wo das
Überleben des Kapitalismus beziehungsweise des Bankensektors auf dem
Spiel steht, ist sehr schnelles Handeln möglich. Wie aber sieht die
Antwort aus, wenn es um unser aller Überleben geht? Ein Kompromiss,
ohne irgendeinen Zwang - eine reine Absichtserklärung. Ganz klar, das
ist die Logik des Kapitalismus. Was uns in Richtung der Ökologie
treibt, ist ein aufgeklärter Utilitarismus, ein Nützlichkeitsprinzip,
die Notwendigkeit zu handeln, weil es sich um eine Überlebensfrage
handelt. Der Kapitalismus folgt im Gegensatz dazu seiner Logik sogar
dann, wenn sich langfristig eine Bedrohung für unsere höchst
materiellen Interessen entwickelt.

Ich schließe nicht aus, dass die Ökologie damit eine Art neues Opium
des Volkes werden kann. Ja, wir sind mit absoluten Bedrohungen
konfrontiert. Diese dienen jedoch dazu eine Mobilisierung aller
reaktionären gegen den Fortschritt gerichteten Ideologien zu
rechtfertigen, die die Umweltkrise als das Ergebnis der technologischen
Vernunft als solcher darstellen. Eine der großen Klippen der Ökologie
besteht in einer Vorstellung von der Natur als rein homöostatischer
(sich selbst regulierender) Natur.

Ich glaube eher, dass die Umwelt, die natürlichen Ressourcen im
marxistischen Sinne, Gemeineigentum sind. Das ist der Grund, warum ich
auf dem Bezug zum Kommunismus bestehe. Angesichts von großen
Katastrophen, die uns bedrohen, ist das Warten auf den Markt keine
Lösung. Von daher die Notwendigkeit zwei Aspekte des Kommunismus
wiederzuentdecken. Erstens, der wichtigste Kampf ist heute der
Verteilungskampf der Communitys/Gemeinschaften. Zweitens, weder der
Markt noch der Staat bieten einen Ausweg.

Wenn weder der Staat noch der Markt eine Lösung darstellen, was dann?

Slavoj Zizek:
Ich gestehe ein, dass ich da mit keiner einfachen Lösung dienen kann.
Entscheidend ist jedoch, dass es zu einer neuen Art transnationaler
Massenmobilisierung kommt, auch wenn ich nicht weiß wie. Ohne eine
solche kann ich mir zwar ein Überleben der Menschheit vorstellen,
allerdings nur unter dem Regime eines neuen verhaltenen Autoritarismus.
Wir nähern uns dem übrigens bereits an und eine perfekte Vorstellung
davon vermittelt gegenwärtig das Beispiel Italien.

Berlusconis Tendenz zur Errichtung eines Regimes ist nicht vergleichbar
mit dem alten Autoritarismus. Die Italiener sind nicht eines Morgens
unter der Fuchtel eines Diktators aufgewacht. Nein, die Nachgiebigkeit
und Toleranz gegenüber den kleinen Vergnügungen des Konsums und der
Sexualität bleibt voll und ganz bestehen. Da findet keine Unterdrückung
statt. Dennoch lebt Italien seit eineinhalb Jahren in einem formellen
Ausnahmezustand mitsamt der Bildung von Milizen durch die Parteien der
extremen Rechten. Währenddessen irrt das, was von der italienischen
Linken noch übrig ist, in einer immer größeren Desorientierung umher.

Sehr gefährliche neue Polarität

Droht dieses Abdriften in einen neuen Autoritarismus in ganz Europa?

Slavoj Zizek:
Mit dem schrittweisen Substanzverlust der alten Sozialdemokratie tritt
in Europa eine sehr gefährliche neue Polarität zu Tage. Auf der einen
Seite gibt es einen Teil des technokratischen, in der politischen Mitte
angesiedelten Kapitals als solchem, der kulturell aber etwas offen ist
und für die Rechte der Homosexuellen sowie das Recht auf Abtreibung
eintritt. Und auf der anderen ein rechter, nationalistischer und
rassistischer Populismus, der dazu tendiert, sich als einzige
Alternative zu verfestigen.

Um es ganz klar zu sagen: Die Tragödie besteht darin, dass es zur Zeit
allein diesem Rechtspopulismus gelingt, sich als politischer Ausdruck
der "Unzufriedenheit im Neoliberalismus" zu verfestigen. Berlusconi
ist, was das anbelangt, eine sehr komplexe Figur. Er bildet eine
Synthese des technokratischen Wirtschaftsliberalismus und der
populistischen Reaktion, zu der er dieses Lächerlichmachen der Politik
und diese groteske Form der Macht hinzufügt.

Genauso gibt es an Sarkozy eine Seite, die Groucho Marx (4) ähnelt,
mit der Inszenierung einer Person an der Spitze der Macht, die Momente
der Selbstironie und der Komödie in die Ausübung der Staatsmacht
integriert. Trotzdem funktioniert die Macht währenddessen in ihrer
ganzen Brutalität.

Sie erklären in Ihrem neuen Buch, dass die Fundamentalismen selbst Teil
der kapitalistischen Dynamik sind. In welcher Weise?

Slavoj Zizek:
Die Massenmedien sagen uns, dass die große Schlacht, die wir heute
erleben, zwischen der demokratischen, liberalen, multikulturellen,
toleranten und nachsichtigen Zivilisation sowie verschiedenen Formen
von religiösem, Fundamentalismus und Islamfaschismus stattfinde. Das
ist nicht der Fall!

Genauer gesagt, die wichtigste Schlacht findet nicht dort statt. Ich
mag den Begriff Islamfaschismus nicht. Wenn wir ihn aber dennoch mal
akzeptieren, dann sollten wir uns der sehr schönen These von Walter
Benjamin (5) erinnern, das sich hinter jedem Faschismus eine versäumte
Revolution verbirgt. Noch vor 30 Jahren gab es in den arabischen
Ländern eine sehr starke, weltliche Linke. Der Westen hat eine wahrhaft
katastrophale Entscheidung getroffen als er diese laizistische Linke
aufgrund ihrer Verbindungen zur Sowjetunion zum Hauptfeind erklärte und
aus strategischen Gründen die Fundamentalisten unterstützte. Alle
großen Figuren des Fundamentalismus und Bin Laden als Allererster waren
Freunde oder sogar Agenten der CIA. Genau da liegt die Tragödie der USA.

"Mir gefällt diese Idee der Wiederholung"

Da stellt sich die Frage, ob und wenn ja wie die Linke hier wie dort zu
alter Stärke zurückfinden kann. Sie sagen, man müsse für die
Wiedergeburt der kommunistischen Idee sorgen. Viele halten das nach
1989/1990 für überholt und illusionär. Was antworten Sie denen?

Slavoj Zizek:
Ich rede hier nicht von Entsagung oder Selbstverleugnung. Ich stehe in
einer Tradition, nämlich in der von Lenin und Robespierre. Vielleicht
bestand die widerlichste ideologische Operation der letzten Jahre
darin, Robespierre als einen verrückten Mörder hinzustellen, der
ehrlich, aber fanatisch war. Es wird eben schnell vergessen, dass es in
den Wochen, die der reaktionären Wendung des 9. Thermidor (6) (d.h.
des 27.Juli 1794) folgten, mehr Hinrichtungen gab als unter der
Schreckensherrschaft.

Mir gefällt diese Idee der Wiederholung. Dabei handelt es sich jedoch
nicht um eine simple Reproduktion des bereits Erlebten. Wir sollten
nicht das wiederholen, was die Jakobiner getan haben, sondern das
verwirklichen, woran sie gescheitert sind. Ich bleibe dabei den vier
Elementen treu, die Badiou "die Idee des Kommunismus'" genannt hat:
Egalitarismus, Voluntarismus sowie das Vertrauen auf die Massen und den
Terror.

Zum Beispiel brauchen wir zur Überwindung der ökologischen Krise den
Terror. Nicht im Sinne der stalinistischen Gulags, sondern im Sinne
einer gewissen sozialen Disziplin. Meines Erachtens geht es nicht
darum, die Bedingungen aufzulisten, die den Kommunismus wieder
notwendig machen. Nein, nichts ist notwendig. Es reicht allerdings
nicht aus von der "Idee des Kommunismus" zu sprechen. Wir müssen die
entscheidenden, im Rahmen des globalen Kapitalismus unlösbaren,
grundlegenden und langfristigen Probleme sowie die Antagonismen
analysieren, die sie hervorrufen und ein neues Terrain eines Kampfes
für den Kommunismus schaffen.

Trotz ihres Eintretens für eine kommunistische Gesellschaft fällt auf,
dass sie die Besitzverhältnisse kaum ansprechen. Warum diese
Zurückhaltung in der Eigentumsfrage?

Slavoj Zizek:
Ich habe kein Problem mit dieser Frage. Aber der globale Kapitalismus
basiert nicht mehr auf dem individualisierten Privateigentum im alten
Sinne des Begriffes. Nehmen wir ein heutiges Unternehmen. Es wird von
einem Manager geleitet und zeichnet sich durch sehr undurchsichtige
Besitzverhältnisse aus, in die ein ganzes Netzwerk von Banken und
Konglomeraten verstrickt ist. Es ist sogar ein sehr brutaler
Kapitalismus vorstellbar, dessen Eigentümer wir alle - in letzter
Instanz und auf einem gewissen Abstraktionsniveau - sind. Das Problem
besteht daher meines Erachtens mehr in der kapitalistischen
Funktionsweise als in den Besitzverhältnissen.

Ich habe nichts gegen Verstaatlichungen. Das Problem ist, dass man die
alte Plage des Etatismus, der Staatswirtschaft vermeidet. Wenn es eine
Lehre gibt, die man aus dem Scheitern der Sowjetunion ziehen kann, dann
dass der Dirigismus der verstaatlichten Wirtschaft innerhalb einer
bestimmten Etappe der traditionellen industriellen Entwicklung
funktionierte. Ich habe für dieses Problem keine klare Lösungsformel.

Die einzige Lösung, die ich sehe, ist die eines von einer
außerparlamentarischen Mobilisierung, von einer Massenbewegung
unterstützten Staates. Von diesem Standpunkt aus erscheint mir die
Erfahrung von Evo Morales (7) in Bolivien sehr interessant. Dort ist
es gelungen, eine machtvolle Mobilisierung der schweigenden Mehrheit
der Indigenas hervorzurufen. Morales verfügt nicht nur über eine
parlamentarische Mehrheit. Er wird von einer permanenten Mobilisierung
der Mehrheit unterstützt.

Nun sollten mal die Ausgeschlossenen das Maß festlegen

Ist das die "demokratische Diktatur des Proletariats", von der Sie
sprechen?

Slavoj Zizek:
Ja, warum nicht?! Formell bliebe das eine Demokratie, aber die
politische Dynamik wäre in letzter Instanz nicht durch die Wahlen und
nicht durch die Wahlergebnisse bestimmt. Es gäbe einen anderen
Mechanismus, um Druck auszuüben. Die liberale Demokratie funktioniert
nicht auf der Grundlage einer echten Auswahl. Die Bedingung für die
Wahlentscheidung ist eine gute Wahl zu treffen, die von
"Expertenmeinungen" gesteuert wird. Das ist eine plebiszitäre Logik.

Eine Demokratie, in der das Volk, um es in naiven Begriffen zu sagen,
"wirklich" entscheidet, beinhaltet die Überwindung des Rahmens der
repräsentativen parlamentarischen Demokratie.

Hier verweist der Begriff Proletariat nicht ausschließlich auf die
Arbeiterklasse, sondern auf alle Nicht-Privilegierten, auf die
Ausgegrenzten und die Immigranten, das heißt all jene, die - wie
Jacques Rancière (8) sagt - "den gesellschaftlichen Anteil der
Anteillosen" bilden. In der bürgerlichen Gesellschaft sind wir alle
gleich, aber manche sind gleicher als gleich. Genau die bestimmen das
Ausmaß der Gleichheit. Nun sollten mal die Ausgeschlossenen das Maß
festlegen.

Quelle: Heise - "Innerhalb des Marktes gibt es keine Lösung!"

Veröffentlicht in Debatte

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