Gilt die Marxsche Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen heute noch? (2)

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Systemüberwindung nicht sichtbar
Da sich die entsprechenden Aussagen auf das Verhältnis der hochentwickelten Produktivkräfte zu den sie fesselnden kapitalistischen Eigentumsverhältnissen beziehen, woraus dann eine Epoche sozialer Revolution folge, ist es gerechtfertigt, die Veränderungen in den heute hochentwickelten kapitalistischen Industrieländern zur Prüfung dieser Fragen heranzuziehen.

Dabei zeigt sich, daß in den imperialistischen Staaten die Entwicklung von Wissenschaft und Technik, von industrieller Forschung und moderner Maschinerie ungehemmt vorangeht. Das reicht von der Vollautomatisierung über die moderne Kommunikationstechnik und Informatik bis zur Atomenergie und Weltraumforschung und nicht zuletzt zur Militärtechnik.

Mit diesen technischen Entwicklungen gehen einher: eine ständig zunehmende Kapitalkonzentration und -zentralisation, Profitsteigerungen in früher ungekanntem Ausmaß, eine konstante Massenarbeitslosigkeit, eine zunehmende Verarmung großer Bevölkerungsteile bei Ausdehnung der Herrschaft des Finanzkapitals im globalen Maßstab. Eine Hemmung oder Fesselung dieser Entwicklung ist nicht erkennbar.

Die durch die Wirtschafts- und Technikentwicklung hervorgerufenen Probleme des Klimawandels, der Erderwärmung, der Erschöpfung der Naturressourcen usw. stoßen zwar an die »Grenzen des Wachstums«, wie das der Club of Rome bereits 1972 formulierte, rufen auch in zunehmendem Maße Warnungen und Vorschläge progressiver Wissenschaftler und Politiker hervor. Neuartige Widersprüche des Systems werden sichtbar gemacht. Neue Bedingungen des ökonomischen und sozialen Reproduktionsprozesses werden untersucht. Aber obwohl diese bedrohlichen Entwicklungen sogar die Existenz unseres Planeten in Gefahr bringen, gibt es keine Anzeichen dafür, daß diese Problematik die Existenz des kapitalistischen Systems als solches ins Wanken bringt. Auch wenn dabei neue ökonomische und soziale Widersprüche aufbrechen, entsteht, soweit es um die wissenschaftlich-technische Dynamik und Innovationskraft geht, keine Fesselung der Produktivkräfte durch die Eigentumsverhältnisse.
Fehlende Gegenbewegung
Aber obwohl die imperialistischen Metropolen auf diesem gefährlichen Entwicklungsweg fast ungebremst weiterschreiten, zeichnet sich gegenwärtig in den Zentren des Kapitalismus unter den sehr unterschiedlichen Gegenkräften keine systemüberwindungswirksame Bewegung ab. Dafür gibt es meines Erachtens vier Hauptursachen.

1. Die herrschende Klasse – dazu gehören die ökonomischen und politischen Eliten – verfügt mittels modernster Technik über hochentwickelte Herrschaftsmethoden, die sie mit Erfahrung und Herrschaftswissen verbindet. Das geht von der subtilen Massenmanipulation durch die Medien über die bürokratische Beherrschung des Alltags bis zur rücksichtslosen Anwendung des staatlichen Gewaltmonopols im Bedarfsfall.

2. Bei systemgefährdenden ökonomischen oder politischen Krisen verfügen die herrschenden Eliten über hinreichende Intelligenz und Flexibilität, um Auswege zu finden, die möglicherweise ihren zeitweiligen Interessen widersprechen, aber langfristig die Systemerhaltung sichern. Marx wies zu recht darauf hin, daß der Kapitalismus aus ökonomischen Gründen nicht zusammenbrechen wird, sondern stets Auswege findet. Genau deshalb hielt Marx ja die revolutionäre Überwindung des Systems für unabdingbar.

Bei dieser sehr differenzierten Systemerhaltungsstrategie werden die herrschenden Kräfte von jenen sozialreformistischen Strömungen unterstützt, die lediglich auf eine erträglichere Gestaltung des Alltags aus sind. Die dabei zur Debatte stehenden sozialen Reformen, die vielen Menschen das Leben erleichtern, sind natürlich anzustreben und durchzusetzen. Viele progressive Sozialwissenschaftler machen dafür praktikable Vorschläge. Das sollte aber nicht mit der Illusion verbunden sein, daß bei unangetastetem Eigentum von Großindustrie und Hochfinanz soziale Reformen schrittweise zu einer qualitativ neuen Gesellschaft führen. So notwendig der Kampf für soziale Reformen im Interesse der Bevölkerung ist – sie vollziehen sich im Rahmen des bestehenden Herrschaftssystems. Für die Überwindung dieses Systems bleibt gültig, daß die Eigentumsfrage die Grundfrage der sozialistischen Bewegung ist.

3. Das Scheitern des geschichtlich ersten Versuchs, eine sozialistische Gesellschaft zu errichten, hat in großen Bevölkerungsteilen ernsthafte Zweifel daran aufkommen lassen, daß es eine Alternative zum Kapitalismus geben kann. Diese Zweifel werden durch eine systematische Entstellung der Geschichte der sozialistischen Länder durch massenhafte Diskriminierung, Delegitimierung und Kriminalisierung aller gesellschaftlichen Einrichtungen der früher sozialistischen Länder geschürt, vertieft und gefestigt.

4. Letztlich ergibt sich aus all dem, daß die Mehrheit der sozial benachteiligten Bevölkerung von Hoffnungslosigkeit, Lethargie und Depression erfaßt ist. Der in Gesprächen am meisten zu hörende Satz lautet »Es hat ja doch alles keine Zweck, man kann ohnehin nichts ändern«. Die täglichen Erfahrungen der Menschen mit Politik und Wirtschaft, mit Sozial- und Gesundheitswesen, mit Justiz und Verwaltung scheinen diesen Satz zu bestätigen.

Veröffentlicht in Theorie

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S
Meißner kommt hier zu einem niederschmetternden Ergebnis: Erst zeigt er an, dass eine Systemüberwindung nicht sichtbar" sei, was zumindest eurobebrillt sicher richtig sein mag, dann aber steigert er sich zu der Behauptung, dies sei durch den Stand der Produktivkräfte gestützt, schließlich seien diese "...soweit es um die wissenschaftlich-technische Dynamik und Innovationskraft geht, keine(r) Fesselung der Produktivkräfte durch die Eigentumsverhältnisse" unterworfen.<br /> Auf das Risiko hin, mich zu wiederholen: Das stimmt so nicht oder hätte aus Sicht des vorigen Zeitalters auch dort zugetroffen. Die Entwicklung in England möge hier als Beleg dienen: Es war sehr wohl ein kombinierter Übergang zum kapitalistischen Wirtschaften in feudalen Mänteln möglich. Der Begriff der "Sprengung" ergibt sich aus der Fixierung auf die "klassische" französische Revolution. <br /> Um wie viel mehr die wissenschaftlich-technische Dynamik weltumspannende Dynamik gewonnen hätte, so sie sich unter sozialistischen Vorzeichen weltweit vollzöge, vermögen wir doch nicht ermessen, da wir diese Größenordnungen nicht zum Vergleich heranziehen können. Ich gehe davon aus, dass ohne Patent- und Geschäftsschranken der Fortschritt ein qualitativ wie quatitativ viel umfassender wäre, uns sich viel unmittelbarer auf die Verbesserung der Lebensbedingungen aller Menschen auswirkte.
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S
Die wichtigste Aufgabe ist allerdings der Nachweis, dass eine kommunistische Gesellschaft machbar UND wünschenswert ist, unter welchen Umständen sie dabei welche Vorzüge entfaltet.<br /> Der Gedankengang, eine Herrschaft durch eine andere, so ein Politbüro, zu ersetzen, erscheint gerade bei Menschen mit Kreativitätsbedürfnissen wenig erstrebenswert. Bei allen sozialen Errungenschaften ist bisher noch keine Überlegenheit vorgeführt worden, sondern gerade auf Kosten kreativer Menschen erkauft.<br /> MAN kann wirklich nichts ändern. Das müssen immer ganz konkrete Menschen tun. Und diese müssen Vertrauen in den Menschen reproduzieren.<br /> Im Augenblick gibt es mit deutscher Brille dabei wenig würdiges zu entdecken...
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S
„Dabei zeigt sich, daß in den imperialistischen Staaten die Entwicklung von Wissenschaft und Technik, von industrieller Forschung und moderner Maschinerie ungehemmt vorangeht. Das reicht von der Vollautomatisierung über die moderne Kommunikationstechnik und Informatik bis zur Atomenergie und Weltraumforschung und nicht zuletzt zur Militärtechnik.“<br /> Ist das so?<br /> Wenn wir das so sehen, dann brauchen wir keinen Sozialismus / Kommunismus! Aber gerade jene vergegenständlichten geistigen Produkte beweisen das Gegenteil. Geschriebene Programme könnten technisch sofort und uneingeschränkt weltweit alle Prozesse, für die sie gemacht sind revolutionieren, eine unvorstellbare Konzentration auf kreative Tätigkeiten ermöglichen. Dem stehen Lizenzrechtsansprüche im weiten wie engen Sinn entgegen. Was nicht verkauft wurde darf nicht weiter verwendet werden, obwohl es technisch eben verwendet werden kann. Wir sind so sehr Opfer dieses Gesellschaftsdenkens, dass wir diesen Mangel nicht wahrnehmen, ja sogar Angst haben, mit der Arbeit unser Ausgebeutetsein zu verlieren!!!
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