Gilt die Marxsche Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen heute noch? (3)

Veröffentlicht auf

Revolutionen an der Peripherie
Wesentlich in heutigen sozialistischen Ländern: wirtschaftliche
Wesentlich in heutigen sozialistischen Ländern: wirtschaftliche und soziale Entwicklung weiter in Gang bringen (Computershop in Havanna, 2.5.2008)
Aus all dem ergeben sich zwei für die marxistische Gesellschaftstheorie bedeutsame Schlußfolgerungen. Die erste bezieht sich auf die Frage, ob in der Tat die hochentwickelten Produktivkräfte von den Produktionsverhältnissen gehemmt und gefesselt werden und aus diesem Konflikt die Überwindung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse gefordert werden kann. Dabei sind vor allem die oben zitierten Feststellungen von Marx zu hinterfragen, ob es so ist, daß die heutigen Produktivkräfte »nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Zivilisa­tion und der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse« dienen; daß diese Produktivkräfte »die Existenz des bürgerlichen Eigentums« gefährden, daß »die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben« bzw. »ihr Leben nicht mehr verträglich ist mit der Gesellschaft«.

Offensichtlich ist die reale Geschichte des Kapitalismus in allen diesen Fragen anders verlaufen. Vielmehr hat die stetige Entwicklung von Wissenschaft und Technik zur Festigung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse beigetragen, werden die modernen technischen Möglichkeiten zu immer effektiverer Herrschaftssicherung eingesetzt, wird auch die ständig weiterentwickelte Militärtechnik und die dazugehörige Militärstrategie zur internationalen Herrschaftssicherung genutzt und auch im Inneren bei ernsthafter Systemgefährdung rücksichtslos angewendet.

Damit hat die von Marx konstatierte Beziehung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen im Kapitalismus auch anderthalb Jahrhunderte nach Marx nicht zu einem systemsprengenden Konflikt zwischen beiden geführt bzw. ist dieser Konfliktpunkt trotz schwerer Krisen, revolutionärer Erschütterungen und der sozialistischen Alternative des 20. Jahrhunderts noch nicht erreicht. Vielmehr trägt genau umgekehrt die Entwicklung der Produktivkräfte trotz der Zuspitzung alter und neuer Widersprüche immer wider auch zur Festigung und Sicherung der bestehenden Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse bei.

Die zweite Konsequenz bezieht sich auf die Feststellung von Marx im Vorwort von »Zur Kritik der politischen Ökonomie«: »Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die mate­riellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind« (MEW 13, S. 9).

Nun sind zwar alle Produktivkräfte entwickelt, die für die Existenz der monopolkapitalistischen Gesellschaft erforderlich sind, und sie entwickeln sich ungehemmt weiter, sie sind auch durchaus hinreichend für die Existenz einer nichtkapitalistischen Ordnung – und dennoch hat die kapitalistische Gesellschaftsformation alle Krisen und Revolutionen überstanden, ist nicht zusammengebrochen, und höhere Produktionsverhältnisse sind nicht an ihre Stelle getreten bzw. die versuchte Alternative ist in Europa gescheitert.

Aber gleichzeitig hat Marx auch stets den »nur historischen, vorübergehenden Charakter der kapitalistischen Produktionsweise« (MEW 23, S. 252) betont. Wenn das richtig bleibt und diese Ordnung nicht das Ende der Geschichte ist, dann ist zu fragen, ob sich – und das ist die zweite bedeutsame Konsequenz aus diesen Überlegungen – im weltgeschichtlichen Prozeß diese Veränderung der Produktionsweise nur an anderem Ort als in hochentwickelten Industrieländern und unter anderen Bedingungen als bei höchstentwickelter Technik vollziehen kann.

Tatsächlich hat der Geschichtsverlauf gezeigt, daß gerade in Ländern mit sehr niedrigem Entwicklungsstand der Produktivkräfte, mit sehr niedrigem Lebensstandard und mit sehr geringen Demokratie- und Politikerfahrungen eine revolutionäre Situation entstehen kann und daß dies auch gesellschaftsverändernd wirksam zu werden vermag.

So wurde am Ende des Ersten Weltkrieges im ökonomisch schwach entwickelten Rußland der Zarismus gestürzt. Eine starke Volksbewegung drängte auf Beendigung des Krieges, auf eine radikale Agrarreform und auf die Schaffung von revolutionär-demokratischen Arbeiter- und Bauernsowjets. In den bekannten »April-Thesen« rief Lenin zur Überleitung der bürgerlich-demokratischen Revolution in die sozialistische Revolution auf.

Dabei zeigen sich viele Gemeinsamkeiten in der Denkweise von Marx und Lenin. Davon seien hier nur drei wesentliche Aspekte hervorgehoben: Erstens hat Marx im Herbst 1870 einige Monate vor der Pariser Kommune die Pariser Arbeiter vor dem Versuch gewarnt, die Regierung zu stürzen; er hielt dies für eine verzweifelte Torheit. Als aber der Aufstand ausbrach, begrüßte Marx trotz der schlimmen Vorzeichen diese proletarische Revolution mit der größten Begeisterung. »Marx versteifte sich nicht auf eine pedantische Verurteilung der ›unzeitgemäßen‹ Bewegung« (LW 25, S. 426).

Zweitens stellte Lenin im Hinblick auf die Möglichkeiten sozialer Revolutionen in seiner Auseinandersetzung mit Karl Kautsky fest:« Gibt es historische Gesetze, die für die Revolutionen gelten und keine Ausnahmen kennen? (...) Nein, solche Gesetze gibt es nicht« (LW 28, S. 236). Lenin hat sich also an den konkreten Bedingungen des Klassenkampfes orientiert statt an abstrakten Gesetzen. Daß er sich auch dabei in Übereinstimmung mit Marx befand, zeigt drittens eine Gedankenführung von Marx in einem Brief vom 17. April 1871 an Ludwig Kugelmann, die in ihrer Weitsicht für unsere Problematik erstaunlich aktuell ist: »Die Weltgeschichte wäre allerdings sehr bequem zu machen, wenn der Kampf nur unter der Bedingung unfehlbar günstiger Chancen aufgenommen würde. Sie wäre andrerseits sehr mystischer Natur, wenn ›Zufälligkeiten‹ keine Rolle spielten. (...) Aber Beschleunigung und Verzögrung sind sehr von solchen ›Zufälligkeiten‹ abhängig – unter denen auch der ›Zufall‹ des Charakters der Leute, die zuerst an der Spitze der Bewegung stehn, figuriert« (MEW 22, S. 542).

Veröffentlicht in Theorie

Um über die neuesten Artikel informiert zu werden, abonnieren:
Kommentiere diesen Post
S
»Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind« (MEW 13, S. 9).<br /> Wie krümelkackerisch ausgewählt. Was bedeutet denn untergehen?<br /> Zum einen hätte man Marx, wenn er das so gesagt und gemeint hätte, entgegenhalten müssen, dass man nie nie sagen sollte.<br /> Dann klingt das sehr nach den Bedingungen bürgerlicher Revolutionen, deren „materiellen Existenzbedingungen“ im Schoße des Feudalismus voll „ausgebrütet worden sind“. Aber mit den an sich siegreichen Revolutionen in den Niederlanden und Britannien ist der Feudalismus nicht untergegangen. Lord Nelson kam ein Sturm zur Hilfe…<br /> „…alle Produktivkräfte…, für die sie weit genug ist“ <br /> Wissen wir nicht eigentlich unbedingt erst nachher, welche das gewesen sind?<br /> Mit dem Blick des messenden Wissenschaftlers erkennen wir im Nachhinein, welche Produktivkräfte die Sklavenhalterordnung sprengten und welche feudal nicht zu meistern waren. Viel später feierte die Sklaverei sogar ein Nischen-Comeback. <br /> Erkannten sich aber die Akteure als das Mögliche im Notwendigen?
Antworten
S
Gibt es historische Gesetze, die für die Revolutionen gelten und keine Ausnahmen kennen? (...) Nein, solche Gesetze gibt es nicht« (LW 28, S. 236)<br /> Aber Beschleunigung und Verzögrung sind sehr von solchen ›Zufälligkeiten‹ abhängig – unter denen auch der ›Zufall‹ des Charakters der Leute, die zuerst an der Spitze der Bewegung stehn, figuriert« (MEW 22, S. 542)<br /> Marx spricht also von Beschleunigung und Verzögerung. Er denkt in historischen Dimensionen, die weit über einzelne Menschenleben hinausgehen. Er sieht HINTER den Ereignissen weiter den geschichtlichen Zug in Richtung Fortschritt fahren, selbst die Lok den Berg wieder zurückrutscht, weil sie nicht genug Energie gebunkert hat. Beim nächsten Mal…<br /> Der Verlauf des einzelnen Ereignisses jedoch ist real abhängig davon, ob gerade ein Lenin, Stalin oder Gorbatschow den Lokführer spielt.
Antworten
S
„Tatsächlich hat der Geschichtsverlauf gezeigt, daß gerade in Ländern mit sehr niedrigem Entwicklungsstand der Produktivkräfte, mit sehr niedrigem Lebensstandard und mit sehr geringen Demokratie- und Politikerfahrungen eine revolutionäre Situation entstehen kann und daß dies auch gesellschaftsverändernd wirksam zu werden vermag.“<br /> Dieser Behauptung möchte ich eine von Lenin formulierte Gesetzmäßigkeit von Revolutionen entgegen halten: Die Revolutionen brechen dort aus, wo die Widersprüche am krassesten sind. Das hat „peripher“ mit Politikerfahrung etwas zu tun: Die herrschende Klasse hat keinen ausreichenden Apparat aufbauen können, ihre Macht zu stabilisieren. Für den Imperialismus ist das u.a. die massenweise Korrumpierung einer bedeutsamen Arbeiteraristokratie. Insofern ist die „Peripherie“-These irreführend.<br /> Etwas anderes stützt sie allerdings: Der Begriff der „Rentnerstaaten“, der bei den „Klassikern“ auftaucht: Die Ungleichgewichtigkeit des Imperialismus führt dazu, dass sehr breite Schichten in den „Siegermächten“ mit einem relativen Wohlstand gefügsam werden – eben auf Kosten der ökonomischen Halbkolonien. Somit ist die subjektive Erkenntnismöglichkeit des objektiven Ausgebeutetseins dort größer. Sie müssen radikaler sein.
Antworten