Gilt die Marxsche Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen heute noch? (4)

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Neue sozialistische Versuche
Diese Passage zeigt, daß sich Marx ungeachtet seiner sehr grundsätzlich formulierten Ausgangsthese gegenüber den jeweiligen historischen Bedingungen sehr flexibel verhielt. Mit dem Hinweis auf Zufälligkeiten, die den Geschichtsverlauf beschleunigen oder verzögern können und zu denen insbesondere auch der Charakter von Persönlichkeiten gehört, hat Marx seine mehrfach formulierte These vom unvermeidlichen Zusammenstoß der Produktivkraftentwicklung mit den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen vorsichtig relativiert.

Wenn wir also akzeptieren, daß sich das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ins Gegenteil verkehrt hat, und wenn wir die relativierenden Hinweise von Marx zu Ende denken, werden konkrete historische Vorgänge der neueren Geschichte erst erklärbar.

Trotz enormer technischer und wirtschaftlicher Rückständigkeit fand in China eine soziale Revolution statt, in deren Verlauf die kapitalistischen und halbfeudalen Eigentumsverhältnisse liquidiert wurden. Entstandene Verzerrungen wie Maoismus und Kulturrevolution wurden überwunden und führten keineswegs zu einem programmierten Zusammenbruch. Die Wirtschaftspolitik beruft sich auf Lenin und die Neue Ökonomische Politik (NÖP) und es wurde eine wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Gang gesetzt, die zunächst eine stabile nichtkapitalistische Gesellschaft konstituiert.

In Vietnam hat sich das gleiche vollzogen einschließlich der Vertreibung der US-amerikanischen Invasoren. Und jetzt wird in einigen süd­amerikanischen Ländern damit begonnen, ebenfalls einen solchen Weg zu beschreiten.

Natürlich ist noch keinesfalls endgültig klar, zu welchem Ziel diese Wege führen, welche Hemmnisse dabei zu überwinden sind und welche Irrtümer und Fehler dabei noch zu begehen und zu korrigieren sein werden. Dies ist zu unterstreichen, weil es viele verständliche Zweifel an den Entwicklungsmöglichkeiten in China und Süd­amerika gibt. Aber wenn in einem halben Dutzend Länder auf drei Kontinenten eine solche Überwindung kapitalistischer Verhältnisse bzw. die Einleitung dieser Überwindung registriert werden kann, ist sicher nicht mehr von historischen Zufällen oder Ausnahmen zu sprechen. Offensichtlich haben sich die Bedingungen für das Entstehen und Realisieren revolutionärer Situationen dahingehend geändert, daß dies nicht in den hoch-, sondern in den schwach entwickelten Ländern eintritt. Und da diese nicht in Europa und Nordamerika, sondern in Asien und Südamerika liegen, bedeutet dies zugleich eine räumliche Verschiebung historischer Entwicklungszentren. An diese räumliche Verschiebung weltrevolutionärer Entwicklungszentren wird sich unser eurozentristisches Denken erst noch gewöhnen müssen.

Zu diesen veränderten Bedingungen gehört gemäß dem Hinweis von Marx an Kugelmann auch der »Charakter der Persönlichkeiten, die zuerst an der Spitze der Bewegung stehen«. Das gilt für Lenin und den Roten Oktober, für den jungen Mao und den Langen Marsch, für Ho Chi Minh und Fidel Castro. Wir können nur hoffen, daß es ebenso für Hugo Chávez und Evo Morales einmal gelten wird. Zu welchen Konflikten es dabei zwischen den antikapitalistischen Staaten und Bewegungen einerseits und den imperialistischen Metropolen kommen wird und wie diese Konflikte ausgetragen werden, ist nicht voraussehbar.
Menschheitskonflikt
Aber auch eine andere Thematik wird dabei sichtbar, denn die Widerspruchsproblematik des kapitalistischen Systems hört damit nicht auf. Sie setzt sich fort und verschärft sich auf einer neuen, höheren Ebene. Im Unterschied zum Kapitalismus des 19. Jahrhunderts hat sich der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen so umgekehrt, daß kein Konflikt zwischen beiden zustande kommt, daß aber durch die kapitalistische Nutzung der modernen Technik der Gegensatz zwischen dem Imperialismus einerseits und den Menschheitsinteressen andererseits eine neue Stufe erreicht. Natürlich bestand immer ein Gegensatz zwischen dem Ausbeutungscharakter des Kapitalismus und einer humanistischen Existenz der Menschen. Bisher wurde dieser Gegensatz durch die imperialistischen Eliten beherrscht. Aber es ging eben bisher um den Kampf der ausgebeuteten Klassen gegen die Ausbeuter im Rahmen der jeweiligen Volkswirtschaften.

Die qualitativ neue Stufe besteht jedoch darin, daß heute die kapitalistische Verwertung der Produktivkräfte die Existenz der Menschheit und sogar die Natur in ihrer bisherigen Entwicklung aufs Spiel setzt. Bei einem militärischen Konflikt reicht das atomare Potential, um die Menschheit zu vernichten. Bei einer weiteren hemmungslosen Ausbeutung aller Naturressourcen und profit­orientierter Anwendung moderner Technik besteht die Gefahr, daß die Erde unbewohnbar wird. Anstehende Klimakatastrophen, Abschmelzung der Pole, nie gekannte Überschwemmungen, Orkane, Taifune usw. sind erste Vorzeichen. Dieser neuartige Widerspruch zwischen diesen vom Kapitalismus verursachten Gefahren und den generellen Menschheitsinteressen wird zunehmend zum Hauptkonflikt der Gegenwart. Nicht aus dem bisher angenommenen Konflikt zwischen Produktivkräften und Eigentumsverhältnissen, sondern aus diesem Hauptkonflikt der Gegenwart müssen jene gesellschaftlichen Kräfte erwachsen, die durch Überwindung der imperialistischen Herrschaft diese Gefahren bannen.



Vortrag in der Klasse »Sozial- und Geisteswissenschaften« der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin am 13. März 2008; eine ausgearbeitete Version erscheint demnächst im Heft »Marxismus international« der Marxistischen Blätter

Herbert Meißner ist Professor für Politische Ökonomie und Mitglied der Leibniz-Sozietät in Berlin.

alles jW vom 9.5.08

Veröffentlicht in Theorie

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S
Die Kräfte, die dem Kapitalismus zum Durchbruch verhalfen, taten das nicht im Bewusstsein, sozusagen die Macht der Bourgeoisie zu errichten, sondern sie handelten mit dem Anspruch, zum Nutzen des ganzen Volkes, der ganzen Menschheit zu wirken.Vielleicht muss dieses Bewusstsein, dass ja durchaus etwas Objektives widerspiegelt(e), an die Stelle einer "historischen Mission" einer "Arbeiterklasse", die es mit den Marxschen Bildungsmerkmalen nur ganz verändert gibt, treten.
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